Der Dufthersteller Symrise bringt jetzt Parfums in Serie auf den Markt, die von einem Computer entwickelt wurden. Macht die Technik bessere Düfte als der Mensch?
Parfüm per KI
Der Computer soll die Parfümentwicklung kreativer, günstiger und schneller machen.
Bild: Klawe Rzeczy, Getty Images, PR
Holzminden Parfümeure sind eine besondere Zunft. Sie verstehen sich als Künstler, komponieren sinnliche Düfte, indem sie wenige Milliliter hochwertiger Zutaten zusammenrühren – und so Emotionen entstehen lassen. Weltweit gibt es nur 2000 dieser Spezialisten, Statistikern zufolge sind sie damit sogar seltener als Astronauten.
Nun soll ihnen eine Künstliche Intelligenz (KI) bei der Parfümproduktion helfen. Kann ein Computer das überhaupt? Der Duft- und Aromahersteller Symrise ist davon überzeugt. Er hat zusammen mit IBM das Programm Philyra entwickelt, benannt nach einer Nymphe aus der griechischen Mythologie.
Für die Firma aus dem niedersächsischen Holzminden ist die KI „eines der wichtigsten Projekte des Unternehmens“, sagt Heinz-Jürgen Bertram, CEO von Symrise. Der Dax-Konzern ist einer der weltweit vier großen Dufthersteller, produziert für Parfümriesen wie L’Oréal oder Estée Lauder.
Philyra könnte die sonst eher traditionelle Duftindustrie aufmischen. Die letzte große Innovation der Branche sei die Einführung synthetischer Duftmoleküle im späten 19. Jahrhundert gewesen, sagt Tobias Koppitz, Geschäftsführer des Deutschen Verbands der Riechstoffhersteller. „Durch den Einsatz von KI könnte die Industrie einen riesigen Sprung machen.“
Die KI soll die Parfümentwicklung nicht nur kreativer, günstiger und schneller machen. Sie kann auch helfen, nachhaltigere Rohstoffe zu verwenden und den komplexer werdenden regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden.
Symrise ist Teil eines Trends, sagt Mirko Waschun, Leiter Konsumgüter und Handel Europa der Beratung Kearney: „Die gesamte Konsumgüterindustrie experimentiert vermehrt mit KI, um die Effizienz zu steigern, das Wachstum zu beschleunigen und Kunden passendere Produkte anzubieten.“
Denn das Geschäft mit Düften ist komplex – und groß. Der Marktforscher Euromonitor International prognostiziert, dass der 55-Milliarden-Dollar-Markt weiter gut wachsen wird. Jährlich kommen über 4000 neue Parfüms in die Regale, Düfte zu Weihnachten oder zum Valentinstag stehen dort nur wenige Wochen.
Alle großen Duft- und Aromahersteller forschen am Thema KI. Bei der Schweizer Firma Givaudan heißt das Programm „Carto“, bei Firmenich „Scentmate“, beim US-Konzern IFF „Codex“. „KI ist der Schlüssel, um Innovationen zu entsperren“, heißt es von IFF.
Symrise hofft auf ein Marktpotenzial von 1,7 Milliarden Euro, sieht sich als führend beim Einsatz von KI in der Parfümentwicklung. Um dieses Selbstbild zu betonen, setzte das Unternehmen schon 2019 eine Duftmarke: Symrise brachte das erste Parfüm auf den Markt, das komplett von einem Computer entwickelt wurde. Der große brasilianische Parfümhersteller Boticario vertrieb den Duft.
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Der war eher ein Showcase für das Forschungsprojekt, nun soll die KI im Alltag eingesetzt werden. „Jetzt geht es in die zweite Phase, und es wird zur Standardhilfe für alle Parfümeure bei uns“, sagt Symrise-Manager Christian Schepers, der strategische Projekte im Bereich Parfümerie leitet. Der Konzern will nun mehr und mehr Kunden Parfüms anbieten, die computergestützt entwickelt wurden.
Der Nutzen der Technik zeigt sich in der komplexen Arbeitsweise der Parfümeure: Sie kreieren neue Düfte aus rund 3500 Ausgangsstoffen, etwa Bergamotte, Rosenöle oder Patschuli. Ein Parfüm besteht meist aus einem bis fünf Dutzend Zutaten, die Kombinationsmöglichkeiten sind kaum zu zählen. Der Parfümeur mischt immer wieder verschiedene Stoffe zusammen, passt außerdem die Mengen an, um den Wünschen des Auftraggebers gerecht zu werden. Bis zum fertigen Duft dauert es Monate, mitunter Jahre.
Parfüm
Jedes Jahr kommen Tausende neue Düfte auf den Markt.
Bild: Photodisc/Getty Images
Philyra soll das beschleunigen und den Parfümeuren helfen, die Rohstoffe auszuwählen und zu kombinieren. Die KI greift auf 3,5 Millionen Parfümformeln zurück, die Symrise schon entwickelt und teils auf den Markt gebracht hat. Der Computer weiß auch, welche Kombinationen sich in welcher Region, in welcher Altersklasse und bei welchem Geschlecht besonders gut verkauft haben – und welche nicht.
Will der Parfümeur etwa einen Frauenduft für den deutschen Markt entwickeln, schlägt Philyra auf Knopfdruck zwölf Rohstoffkombinationen vor, die die KI für erfolgversprechend hält. Der Parfümeur kann wählen, ob die Duftnote bereits erhältlichen Parfüms ähneln oder ganz anders riechen soll. So entwickelt er mithilfe des Computers Düfte weiter oder kreiert neue Serien.
Die vorgeschlagenen Kombinationen mischt eine Maschine an, der menschliche Experte kann sie riechen, einzelne Zutaten feinjustieren oder austauschen. Der Computer lernt, welche Vorschläge der menschliche Experte weiterentwickelt und welche nicht. So soll die KI das Zusammenspiel und damit auch die Entstehung der Düfte verbessern. „Die KI kann dem Parfümeur schneller einen Startpunkt geben, von dem aus er den Feinschliff machen kann“, sagt Symrise-Chef Bertram.
Heinz-Jürgen Bertram
„Die KI kann dem Parfümeur schneller einen Startpunkt geben, von dem aus er den Feinschliff machen kann“, sagt der Symrise-Chef.
Bild: Symrise
Das Unternehmen will so auch die Kreativität seiner Spezialisten steigern, sagt KI-Projektleiterin Claire Viola: „Das Schöne an Philyra ist, dass sie keine Schranken im Kopf hat und Kombinationen findet, auf die Parfümeure bislang nicht gekommen sind.“ Wie alle Menschen sind auch Parfümeure voreingenommen, von ihrer Kultur und ihrem Werdegang beeinflusst. Kollege KI durchbricht solche Denkbarrieren und sorgte etwa dafür, dass Symrise erstmals Gurkenduft in Parfümen verwendete.
Symrise liefert die Duftformeln für Philyra, der IT-Partner IBM die Algorithmen. Basis ist die Softwareplattform Watson. Doch wie kann der Computer Duftkombinationen kreieren, obwohl er nicht riechen kann?
Parfümeure von Symrise haben die Rohstoffe systematisch bewertet, schufen so einen Standard. IBM-Partner Otto Krischer, bei dem Technologiekonzern für das Projekt verantwortlich, erklärt: „Wenn Zutaten ähnlich riechen, haben sie für den Computer einen kleineren mathematischen Abstand.“ Philyra habe die Düfte in mehr als 20 Dimensionen kategorisiert. So wisse die KI auch, wie verschiedene Rohstoffe im Zusammenspiel duften. Damit das funktioniert, haben die Verantwortlichen die Daten über Monate in eine passende Form gebracht.
Philyra
Die KI hilft den Parfümeuren dabei, Rohstoffe auszuwählen und zu kombinieren.
Bild: Symrise
Symrise-Chef Bertram gibt zu, man habe bei der Entwicklung „viel Lehrgeld gezahlt“. IBM-Partner Krischer ergänzt: „Algorithmen für Düfte zu entwickeln ist viel komplexer als für Geschmäcke.“ In einem Fall stellte die KI statt Parfüm einen Kerzenduft her. Aufgrund der vielen Freiheitsgrade sei es gewollt, dass mitunter unerwartete Düfte entstünden, so Krischer. Mit dem Kerzenduft war die Technik aber offensichtlich etwas zu kreativ.
Bei dem Projekt geht es nicht mehr nur um Einfallsreichtum. In der nächsten Philyra-Generation können Parfümeure auch Nachhaltigkeitsziele einstellen, erläutert KI-Projektleiterin Viola. Dann würde der Computer nur Rohstoffe vorschlagen, die etwa besonders schnell nachwachsen. „Immer mehr Kunden verlangen danach“, sagt Viola.
Schon heute erweist sich Philyra bei den lückenhaften Lieferketten als nützlich. Ist ein Rohstoff nicht lieferbar, lässt er sich oft nicht einfach durch einen anderen ersetzen. Die gesamte Kombination muss angepasst werden, das Parfüm soll aber weiter genauso riechen. Ein Parfümeur bräuchte dafür Wochen, die Maschine Minuten. Auch bei regulatorischen Fragen hilft Philyra, etwa wenn ein Kunde einen bestimmten Rohstoff nicht mehr wünscht.
Claire Viola
„Das Schöne an Philyra ist, dass sie keine Schranken im Kopf hat und Kombinationen findet, auf die Parfümeure bislang nicht gekommen sind“, sagt die KI-Projektleiterin bei Symrise.
Bild: Symrise
Und wenn ein Kosmetikhersteller nach einem günstigen Parfüm verlangt, kann der Computer dem Parfümeur preiswertere Zutaten vorschlagen. Geplant ist auch, weitere Marktdaten zu integrieren, um Parfüms noch zielgerichteter zu entwickeln. Symrise-Chef Bertram sagt: „All das erleichtert Parfümeuren die Basisarbeit.“ Diese hätten mehr Zeit, sich um die eigentliche Parfümentwicklung zu kümmern.
Philyra soll die Entwicklung bei Symrise auch effizienter machen. Firmen wie L’Oréal lassen sich üblicherweise von vielen Duftherstellern Vorschläge machen, wenn sie ein neues Parfüm auf den Markt bringen wollen. Symrise entwickelt bei solchen Anfragen 60 bis 70 Muster, das beste reichen sie beim Kunden ein. 100.000-mal im Jahr geht das so – immer wieder muss Symrise warten und hoffen, den Auftrag zu bekommen. Die Entwicklungskosten muss Symrise auch bei abgelehnten Düften tragen.
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Die Holzmindener hoffen daher, die Muster mithilfe der KI schneller entwickeln zu können, die Wünsche der Kunden besser umzusetzen – und häufiger den Zuschlag zu bekommen. Für eine Erfolgsbilanz sei es aber noch zu früh.
KI-Projektleiterin Viola berichtet von weiteren Vorteilen: Gerade Kunden in Asien seien an computerentwickelten Parfüms sehr interessiert und würden das gar auf dem Produkt bewerben. So könne man sich von der Konkurrenz abheben. Die meisten Kosmetikhersteller markieren entsprechende Düfte allerdings nicht eigens als KI-Produkt.
Bislang habe Symrise in das Projekt „einen anständigen siebenstelligen Betrag“ investiert, sagt Strategie-Manager Schepers. „Wir sind mittlerweile an einem Punkt, wo sich das Vorhaben finanziell trägt.“ Der Konzern will die Technik künftig auch in weiteren Bereichen anwenden, etwa für Duftstoffe für Wasch- und Reinigungsmittel, Seifen oder Shampoos, die er ebenso herstellt.
Hier ist der Einsatz des Computers weitaus komplexer. „Bei der Feinparfümerie geht es nur um den Geruch“, sagt Schepers. Waschmittel muss in erster Linie reinigen, und erst am Ende des Waschgangs kommt der Duft ins Spiel. Dieser muss aber den Waschgang über stabil bleiben. „Da muss der PC erst noch mehr lernen.“ Sollte Symrise dieser Schritt gelingen, könnte die KI aus Sicht des Konzerns einen Markt von insgesamt 13 Milliarden Euro bedienen.
Werden die Parfümeure also bald durch Computer ersetzt? Diese Sorge sei unberechtigt, beteuert Symrise-Chef Bertram: „Mensch und Maschine sind in der Kombination effizienter und bereichern sich gegenseitig.“ Die KI sei lediglich ein zusätzliches Werkzeug. 50 der 80 Symrise-Parfümeure nutzten dieses bei ihrer Arbeit.
Selbst der Branchenverband befürchtet keine Entlassungen wegen der Technik. „Die KI ist für Parfümeure ein Partner, aber keine Konkurrenz“, sagt Anneliese Wilsch-Irrgang von der Deutschen Gesellschaft der Parfümeure. Der Mensch sei weiter als kontrollierende Instanz nötig. Gerade bei Luxusdüften sei der Parfümeur selbst ein Verkaufsargument.
Bleibt noch eine letzte, entscheidende Frage: Wer macht den besseren Duft, Philyra oder der Parfümeur? KI-Projektleiterin Viola bleibt bescheiden: „Es ist die Zusammenarbeit. Die Technik steigert die Kreativität, aber es braucht den Menschen, um die Ergebnisse zu lesen und zu verbessern.“ Auch Symrise-Chef Bertram gibt sich diplomatisch: „Es ist anders. Nicht besser und nicht schlechter.“
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