Noch sind die Anleger vom Erfolg der neuen Siemens-Digitalstrategie nicht überzeugt. Die Softwaretochter Mendix soll Kunden den Einstieg bei der Plattform „Xcelerator“ erleichtern.
Siemens-CEO Roland Busch
Mendix gilt als erfolgreicher Zukauf des Dax-Konzerns und ist Teil der Digitalstrategie des CEO.
Bild: via REUTERS
München Die Ansprüche sind hoch: In seiner neuen Digitalstrategie will Siemens-Chef Roland Busch mit „Xcelerator“ die führende digitale Plattform für die Industrie schaffen. Die Finanzmärkte scheinen noch nicht überzeugt, die Siemens-Aktie hat von der Verkündung der Pläne Ende Juni bislang kaum profitiert. Dabei hatten gerade die Investoren eine Digitalstrategie von Busch eingefordert.
Entscheidend wird es laut Konzernkreisen sein, ob es gelingt, die Plattform schnell zu skalieren – also rasch Tausende Kunden für die offene Systemumgebung zu gewinnen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Low-Code-Plattform Mendix.
Low Code heißt mit geringerem Programmieraufwand als üblich. Und das heißt: schneller. Die Software der US-Tochter sei ein „Schlüsselbaustein für mehr Flexibilität, Offenheit und Interoperabilität für unsere Kunden“, sagte Siemens-CEO Roland Busch dem Handelsblatt.
Siemens will über den „Xcelerator“ eigene Hardware- und Softwaremodule vertreiben und zugleich Tausende externe Partner anbinden. So sollen ein Software-Ökosystem sowie ein digitaler Marktplatz mit offenen Schnittstellen entstehen.
Hier kommt Mendix ins Spiel. Mit der Anwendung könnten Kunden auf „Xcelerator“ künftig bestehende Siemens-Lösungen erweitern und personalisieren, sagte Mendix-CEO Tim Srock dem Handelsblatt. „Es gibt den Rohbau, und ich kann mit Mendix ein Dach darauf bauen – egal, ob es rot oder blau ist.“
Die Plattform der Amerikaner ermöglicht die visuelle Entwicklung – Anwender schreiben dabei keinen Programmcode, sondern nutzen standardisierte Module. Die Plattformen übersetzen Ideen dann in Quellcode. So können Kunden einfach eigene Anwendungen programmieren, die die Funktionalitäten ihrer erworbenen Siemens-Software erweitern.
In den USA habe etwa ein Siemens-Kunde mithilfe von Mendix seine verschiedenen IT-Systeme miteinander verbunden, sagt Srock. Nun kann er mithilfe der App durchgängig nachverfolgen, wo sich Teile im Produktionsprozess gerade befinden und wann sie nachgeordert werden müssen. „Diese Applikationen können die Unternehmen dann über Xcelerator auch an andere Kunden verkaufen.“
Als Beispiel dafür nennt Srock die Nachhaltigkeitsplattform Sustaira, mit deren App Firmen den CO2-Fußabdruck und andere Werte bestimmen können. Mendix und Siemens verdienen über eine Umsatzbeteiligung mit.
Siemens hatte die US-Firma vor vier Jahren für 600 Millionen Euro übernommen. Mendix ist einer der Pioniere im Bereich der sogenannten Low-Code- und No-Code-Programmierplattformen. Mit dieser Technologie sollen auch Menschen Apps programmieren können, die über wenig oder keine speziellen IT-Kenntnisse verfügen.
„Wir stellen digitale Komponenten wie Legosteine bereit – der Kunde kann daraus dann Applikationen bauen“, sagte Srock. Die Entwicklung sei bis zu mehr als zehnmal schneller möglich. Vor allem aber würden die IT-Abteilungen entlastet, für die Personal immer schwerer zu finden sei. Zudem könnten Experten aus den Funktionsabteilungen früh eingebunden werden, nicht erst, wenn die Entwickler einen Rohentwurf gefertigt haben.
Auf dem Low-Code-Feld tummeln sich Start-ups ebenso wie große Softwarekonzerne. So setzt auch SAP auf Codes aus dem Baukasten, die Aufgaben wie die Automatisierung von Geschäftsprozessen erleichtern sollen. Die Marktforscher von Gartner prognostizieren für das laufende Jahr, dass der Umsatz mit Technologien rund um die Low-Code- und No-Code-Entwicklung um 23 Prozent auf 13,8 Milliarden Dollar wachsen wird, wozu Plattformen 5,8 Milliarden Dollar beitragen. Schon in drei Jahren könnten laut Prognose mehr als zwei Drittel der von Unternehmen entwickelten Anwendungen auf der Technologie mit niedriger Eintrittsschwelle basieren.
Mendix sieht sich als Pionier und Marktführer. Aktuell nutzen mehr als 4000 Firmen weltweit die Plattform. Die Umsätze dürften bei einem dreistelligen Millionenbetrag liegen. Die Branche wachse laut Experten um etwa 30 Prozent im Jahr, sagte Srock und fügt an: „Wir wachsen schneller als der Markt.“
Bei Siemens hat Busch intern schon viele von seinem Konzept überzeugt. Doch es gibt auch noch Skeptiker, die fragen, ob Xcelerator der ganz große Wurf wird. Siemens habe mit Mindsphere schon einmal versucht, ein zentrales Betriebssystem für die Industrie zu schaffen, meint ein Insider. Andere fragen, ob es richtig sei, eine für die meisten Kunden neue Marke einzuführen.
Noch ist offen, wer bei der Digitalisierung der Industrie der Gewinner sein wird, die großen US-IT-Konzerne wie Microsoft und Amazon oder Automatisierungsspezialisten, die tiefere Industrieexpertise haben. Bei Siemens ist der Optimismus in den vergangenen Jahren gewachsen. Auch ein IT-Riese wie Amazon Web Services (AWS) habe erkennen müssen, dass es ohne Branchenwissen nicht funktioniere – und kooperiere nun auf vielen Feldern mit Siemens.
Auch Harald Smolak, Ex-Siemens-Manager und jetzt Partner bei der Managementberatung Atreus, sieht durchaus gute Chancen für die Münchener. „Die Kombination aus dem traditionellen Produktgeschäft und dem neuen Plattformlösungsgeschäft bietet Siemens gerade in Krisenzeiten gute Möglichkeiten, sich im Weltmarkt zu behaupten.“
Auch die Partnerschaft mit Nvidia könne Siemens weiterhelfen. „Dadurch gelingt es, das Metaverse für die Industriekunden in der Automation auf das Level eines Trendsetters im Lösungsgeschäft zu heben.“
Siemens will mit der Grafik- und Rechenpower von Nvidia vor allem den sogenannten digitalen Zwilling verbessern. Mit fotorealistischer Grafik und der Hilfe von Künstlicher Intelligenz sollen die Kunden ein digitales Ebenbild in Echtzeit von ihren Anlagen und Gebäuden bekommen. Auf diesem Weg können zum Beispiel Fehler gefunden und Prozesse optimiert werden.
Laut Unternehmenskreisen können derzeit etwa zwei Drittel der Kunden einen abgespeckten digitalen Zwilling zumindest in Teilen der Kette nutzen – also zum Beispiel beim Entwurf eines Produkts, bei der Planung der Fertigung oder bei der Kontrolle der Maschinen in der Produktion. Knapp ein Drittel dürfte bereits über eine durchgängige Digitalisierung dieser Prozesse verfügen.
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Siemens-Chef Busch hatte angekündigt, dass die Softwareumsätze des Konzerns in den nächsten Jahren jeweils um mehr als zehn Prozent wachsen sollen. Der Wandel zum IT-Konzern soll dabei auch mit Akquisitionen beschleunigt werden. „Es gibt Dutzende Kandidaten in der Pipeline“, sagte ein Insider dem Handelsblatt.
Mendix gilt vielen als eine der erfolgreichsten Siemens-Akquisitionen der vergangenen Jahre. Die Münchener setzen die Low-Code-Plattform selbst oft ein. Der Technologiekonzern selbst habe bereits 400 Applikationen mithilfe von Mendix entwickelt, weitere 400 seien in der Pipeline.
Gerade außerhalb der Industrie hat Mendix schon eine starke Position erobert. Die Stadt Rotterdam zum Beispiel hat im Rahmen ihrer Digitalisierung in kurzer Zeit mehr als 100 Applikationen mithilfe der Technologie entwickelt. So könnten etwa Neugeborene neuerdings einfach per Video bei den Ämtern erfasst werden, sagt Srock. „Die Verwaltung kann so jeden Tag 30 zusätzliche Registrierungen bewältigen, und die Bürger haben auch einen Mehrwert, weil sie nicht mehr ins Rathaus müssen.“
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