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21.12.2022

11:06

Bildungs-Start-up

Weitere Entlassungswelle bei Einhorn Gostudent – Hunderte Mitarbeiter müssen gehen

Von: Luisa Bomke, Larissa Holzki

PremiumDer zweite Stellenabbau innerhalb von drei Monaten erfolgt kurz auf eine millionenschwere Übernahme. Die ambitionierten Ziele sind in Gefahr. Wie Gostudent durch die Krise kommen will.

Felix Ohswald und Gregor Müller sammelten mit ihrem Bildungs-Start-up 590 Millionen Euro ein. Jetzt folgten zwei Entlassungswellen in drei Monaten. Stefan Knittel

Gostudent-Gründer

Felix Ohswald und Gregor Müller sammelten mit ihrem Bildungs-Start-up 590 Millionen Euro ein. Jetzt folgten zwei Entlassungswellen in drei Monaten.

Düsseldorf Für einige Mitarbeiter bei Gostudent ist das Kommunikationstool Slack vergangene Woche zum gruseligen Liveticker geworden: Viele verbrachten ihre Zeit damit, die Zahl der Mitglieder im Kanal „all-hands“ zu verfolgen. Denn immer wenn die Zahl weiter runterging, wussten sie: Es hatte wieder einen Kollegen getroffen. Wer bei der Nachhilfefirma eine Kündigung bekommt, verliert in der Regel sofort seine Zugriffsrechte.

Inzwischen steht fest, dass das Wiener Milliarden-Start-up Gostudent Hunderte Mitarbeiter entlässt. Nach Handelsblatt-Informationen sollen es mindestens 350 sein. Die Zahl bestätigte das Unternehmen nicht.

„Leider werden wir uns schweren Herzens von einigen hervorragenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verabschieden müssen“, sagte eine Sprecherin des Unternehmens. Die Kaufkraft der Verbraucher sei „auf einem Rekordtief“. Gostudent müsse daher die „Pläne für das kommende Jahr neu evaluieren“.

Gostudent vermittelt Nachhilfelehrer für alle Jahrgänge und Fächer. Die Einzelstunden können im Abo gebucht werden und finden online per Videokonferenz statt. Die zweite Entlassungswelle innerhalb von drei Monaten folgt kurz auf eine millionenschwere Übernahme.

Zahlreiche Start-ups geraten derzeit in die Krise. Das Finanzierungsumfeld ist deutlich schwieriger geworden. Das gilt insbesondere für Firmen wie Gostudent, die hohe Marketingausgaben haben und verhältnismäßig viel Geld verbrennen.

Start-up-Investoren blicken plötzlich anders auf die jungen Firmen. Gostudent ist seit der jüngsten Finanzierungsrunde im Januar offiziell mit drei Milliarden Euro bewertet. Wie das Handelsblatt jedoch aus internen Papieren eines Investors erfuhr, hat mindestens ein großer Anteilseigner die Firma Ende Juni nur noch auf umgerechnet 1,7 Milliarden Euro taxiert. Auch dazu wollte sich die Firma nicht äußern.

Doch dass sich nochmals Investoren auf der Grundlage der alten Bewertung beteiligen, wird zunehmend unwahrscheinlich.

Zwischen Wachstumswahn und Sparzwang

Jahrelang haben Investoren auf Wachstum gesetzt. Plötzlich wollen sie Profitabilität sehen. Viele Gründer sind gezwungen, radikal umzusteuern. Ihr Geld muss womöglich länger reichen als die geplanten zwölf bis 18 Monate.

Und bei Gostudent mussten ambitionierte Ziele zuletzt kassiert werden: Seit der Gründung 2016 sind insgesamt 590 Millionen Euro in die Firma geflossen. Zu den Investoren zählen namhafte Kapitalgeber wie Tencent, DST Global, Left Lane Capital und Softbank.

Noch im Januar fand die letzte Finanzierungsrunde statt, bei der Gostudent-Gründer Felix Ohswald 300 Millionen Euro einsammelte. Ohswald soll daraufhin mit 250 Prozent Wachstum geplant haben. „Das haben wir nun auf 80 Prozent reduziert“, teilte er Anfang September intern mit.

Im Mai hatte Gostudent verkündet, die Marke von 2000 Mitarbeitenden geknackt zu haben. Nachdem ein interner Kommunikationskanal im Juni sogar 2100 Mitarbeitende zählte, sollen es mittlerweile nur noch knapp über 1300 sein.

Zeichen stehen auf Rückzug

Und statt der groß angekündigten Expansion stehen die Zeichen auf Rückzug. Dem Marktstart in Polen steht das Aus in den USA, Schweden, Russland und wohl auch Kanada gegenüber. In Unternehmenskreisen heißt es zudem, dass sich Gostudent auch aus Lateinamerika zurückziehe. Weitere Märkte würden „beobachtet“.

Interne Präsentationen mit vorläufigen Zahlen für die Monate Mai, Juni und Juli legen nahe, dass Gostudent weitere Ziele verfehlt hat.

  • Abos: Mehr als 70 Prozent der Kunden sollten demnach ihr Nachhilfe-Abo verlängern. Tatsächlich taten das wohl nur 52 bis 58 Prozent.
  • Forderungen: Statt weniger als fünf Prozent offener Forderungen konnte Gostudent zwischen 13 und knapp 20 Prozent seiner Forderungen nicht eintreiben.
  • Zufriedenheit: Statt eines Kundenzufriedenheitsscore (NPS) von über 65 erreichte die Nachhilfefirma nur einen Wert von 41, 31 und 33.

Fragen dazu beantwortete Gostudent nicht.

Gründer Ohswald macht derweil nicht den Eindruck, seine große Vision aufzugeben. Zwischen den beiden Entlassungswellen zeigte er sich auf der Start-up-Messe Bits and Pretzls in München gut gelaunt. Seine Zuhörer bittet er, sich die Schule 2040 vorzustellen: Virtuell säßen die Schüler im Klassenzimmer, in der Realität „vielleicht auf einem anderen Planeten“. Die Zukunft der Bildung werde „unabhängig von geografischen Grenzen sein“.

Mit seiner vierten Akquisition ist Gostudent sogar ins Offlinegeschäft eingestiegen. Vor wenigen Tagen übernahm das Start-up den Konkurrenten Studienkreis, einen der größten deutschen Nachhilfeanbieter mit mehr als 1000 Mitarbeitern. Doch es stellt sich zunehmend die Frage, ob es die Firma zwischen Wachstumsplänen und Sparzwang zerreißt.

Gostudent: Die Nerven liegen blank

Das Management tut sich offenbar schwer, den künftigen Bedarf an Mitarbeitern zu ermitteln. Das könnte Folgen für die Moral im Unternehmen haben: „Eine Salamitaktik bei Entlassungen ist furchtbar für die Kultur“, sagte Danny Rimer, renommierter Investor bei der internationalen Wagniskapitalfirma Index Ventures, dem Handelsblatt im September.

Tatsächlich liegen die Nerven bei Gostudent blank. Bei Mitarbeitern entlädt sich Wut über die Gründer, für die Teamgeist bisher immer wichtig gewesen sei: „So kalt wie jetzt waren Gregor und Felix noch nie.“ Im Wiener Büro herrsche „Stimmung wie in einem Horrorfilm“, sagt ein Mitarbeiter.

Die Trennung von Mitarbeitern soll schnell gehen, berichten Insider. Aus dem Nichts würden den Betroffenen Einzel- oder Gruppengespräche mit ihrer Führungskraft in den Kalender gestellt. Worum es geht, ahnten sie, wenn unangemeldet ein Mitarbeiter der Personalabteilung dazustoße. Als Nächstes müssten sie dann eine Geheimhaltungserklärung unterzeichnen. Für die erste Kündigungswelle gab es intern wohl sogar einen Codenamen: „Project Orange“. Gostudent äußerte sich nicht dazu.

Sparen beim Kundenservice

Im Unternehmen gibt es schon lange Vorwürfe, dass Ohswald und sein Führungsteam es mit den Wachstumsambitionen übertreiben. Mitarbeitende und Nachhilfekräfte haben dem Unternehmen etwa vorgeworfen, zu schnell zu expandieren und „mit Psychospielen Tutor*innen und Kund*innen“ Druck auf die Belegschaft auszuüben.

Im Zuge der Expansion soll es nicht nur zu technischen Problemen sowie verzögerten Lohnzahlungen gekommen sein, sondern auch zu Sicherheitslücken in der Eignungsprüfung für neue Tutoren. Obwohl Gostudent versprach, seine Systeme zu verbessern, geriet das Start-up im August mit Missbrauchsvorwürfen gegenüber einem Nachhilfelehrer in die Schlagzeilen.

Wo künftige Kundenbeschwerden landen, ist derzeit noch unklar. Die jüngsten Kündigungen sollen viele Mitarbeitende aus dem Kundenservice betreffen. Offenbar setzt Gostudent nun auf Automatisierung und Outsourcing. Das würde Kosten sparen.

Gostudent kommentiert das nicht. Offiziell erklärt das Unternehmen: „Wir sind in einer wirtschaftlich sehr soliden Position und zuversichtlich, dass wir mit diesen schwierigen, aber notwendigen Veränderungen die aktuellen Herausforderungen meistern werden.“

Mitarbeit: Arno Schütze

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