Europa braucht ZVEI-Präsident Kegel zufolge fünf Mal so viele Fabriken wie bisher, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Noch sei nicht einmal ein Anfang gemacht.
Chipfertigung
Europa will die eigene Chipproduktion ausbauen, fällt aber gegenüber anderen Regionen immer weiter zurück.
Bild: Bloomberg
München Die Industrie verliert den Glauben, dass Europas Aufholjagd bei den Chips noch gelingt. „Wenn wir das Ziel der EU von 20 Prozent Weltmarktanteil im Jahr 2030 erreichen wollen, müssen wir die Produktionskapazitäten verfünffachen“, sagte Gunther Kegel, Präsident des Branchenverbands ZVEI, dem Handelsblatt. „Es braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie wir das schaffen könnten.“
Der ZVEI vertritt die Interessen der Elektronik- und Digitalindustrie in Deutschland, große Chipkonzerne wie Infineon, NXP oder Bosch sind Mitglieder des Verbands. Präsident Kegel ist auch Chef des Mannheimer Sensorherstellers Pepperl und Fuchs und mit dem Geschäft vertraut.
Er fürchtet zudem, dass sich Europa von China abkoppelt, ohne selbst alternative Produktionskapazitäten aufzubauen: „Wir müssen im Austausch mit China bleiben. Denn in vielen Bereichen verfügt das Land über eine sehr starke Position, auch in der Halbleiterbranche: Jeder vierte Chip wird in China produziert.“ Einzelne Chiptypen seien sogar ausschließlich in der Volksrepublik erhältlich.
Die Zeit drängt beim Ausbau europäischer Kapazitäten. Derzeit stammt nicht einmal jeder zehnte Chip weltweit aus europäischen Fabriken. Es würden in Europa derzeit weniger Chips produziert, als die Industrie benötige, sagt Jan-Hinnerk Mohr, Halbleiterexperte der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group.
Der Chipmangel in der europäischen Industrie dauert schon mehr als zwei Jahre an. Auf einzelne Bauteile aus Fernost müsse er „über zwei Jahre warten“, klagt Rüdiger Stahl, Geschäftsführer des bayerischen Elektronikproduzenten TQ. „Die Situation hat sich zuletzt zwar verbessert, ist aber nach wie vor nicht normal.“
So schnell wird sich daran nichts ändern. Europa tut sich schwer, eigene Fertigungen aufzubauen. Die von der Politik Anfang vergangenen Jahres ausgerufene Aufholjagd bei den Chips stockt, ehe sie überhaupt richtig Fahrt aufgenommen hat.
2022 haben mit Intel und Infineon zwar zwei führende Chipkonzerne angekündigt, mehrere Milliarden in neue Werke in Deutschland zu stecken. Die Zusagen stehen aber unter dem Vorbehalt, dass ausreichend Fördermittel fließen. Dafür fehlt bislang die Einwilligung der EU – obwohl Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst voriges Frühjahr die Chip-Offensive verkündet hat.
Zwischenzeitlich haben führende Chipnationen wie die USA, Japan, Südkorea und Taiwan milliardenschwere Förderprogramme auf den Weg gebracht. Die Bauarbeiten haben vielerorts begonnen, in den USA entsteht derzeit ein halbes Dutzend riesiger Werke.
Wann Intel in Magdeburg und Infineon in Dresden mit dem Bau beginnen, ist offen. Wenn es gut läuft, fahren die Bagger im zweiten Halbjahr 2023 vor.
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Der Staat wird insgesamt wohl mehr Geld zur Verfügung stellen müssen als geplant. Denn die Preise für die Chipmaschinen und die Baukosten sind in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Die Chiphersteller aber fordern konstant rund 40 Prozent der Investitionssumme als Zuschuss, sei es nun in Form von Steuererleichterungen oder als direkte Zahlungen.
Geplante Intel-Chipfabrik
Animation des geplanten Halbleiterwerks von Intel in Magdeburg: Wann die Bauarbeiten beginnen ist offen, es fehlt die Förderzusage.
Bild: dpa
Zudem wird es schwieriger, Firmen zu Investitionen in Europa zu bewegen, weil die Standortbedingungen in den vergangenen Monaten schlechter geworden sind. Vor allem die Strompreise sind in Deutschland deutlich stärker gestiegen als anderswo, sind hier etwa dreimal so hoch wie in den USA. Strom ist ein wesentlicher Kostenfaktor für Halbleiterfirmen. Das Werk des US-Konzerns Texas Instruments im bayerischen Freising etwa verbraucht so viel Strom wie die gesamte Kreisstadt mit ihren fast 50.000 Einwohnern.
Auch rolle der Staat den Firmen nicht gerade den roten Teppich aus, kritisiert ZVEI-Präsident Kegel: „Die Regulierungswut in Europa wird immer schlimmer.“
Mittelständlern wie TQ wäre geholfen, wenn sie zum Beispiel mehr sogenannte Microcontroller bekämen – Minicomputer für spezielle Aufgaben, die unter anderem in der Medizintechnik, aber auch in Robotern eingesetzt werden. Diese Bauteile stammen heute größtenteils von Auftragsfertigern in Fernost, unter anderem aus China. Sie sind begehrt und knapp. Die sich verschlechternden politischen Beziehungen zur Volksrepublik und die erratische Covidpolitik Pekings sind weitere Gründe, warum Bundesregierung und EU auf eine eigene Chipversorgung drängen.
Trotz der Notwendigkeit des Aufbaus eigener Produktionskapazitäten in Europa raten Experten davon ab, alles allein machen zu wollen. Dafür seien die Halbleiterfabriken einfach zu kostspielig. Die allermodernsten Werke schlagen mit etwa zehn Milliarden Dollar zu Buche. „Doppelstrukturen wären teuer und würden zu weniger Fortschritt oder teureren Produkten für Konsumenten führen“, warnt BCG-Experte Mohr.
ZVEI-Präsident Kegel will zwar die Produktion in Europa stärken, um weniger abhängig von Produzenten in Übersee zu werden. Das bedeute aber nicht, bestehende Lieferketten zu zerschlagen: „Auch in Zukunft werden Chips arbeitsteilig in globalen Wertschöpfungsnetzen produziert.“ So werden viele Halbleiter in Malaysia, Indonesien und den Philippinen getestet und verpackt, weil dies arbeitsintensiv und entsprechend teuer ist.
Wie schwer es ist, Chipkonzerne aus Übersee anzulocken, zeigt das Beispiel TSMC. Seit mehr als einem Jahr schon prüft der weltgrößte Auftragsfertiger, sich in Deutschland anzusiedeln. Es wäre das erste Werk der Taiwaner in Europa. Eine Entscheidung hat das börsennotierte Unternehmen aber noch nicht gefällt. Fest steht nur: Für die Industrie hierzulande wäre es ein Segen, wenn die Produktion näher heranrückt.
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Denn ungeachtet der Rezession, der Inflation und des Ukrainekriegs: Die Auftragsbücher vieler Chiphersteller sind voll, die Nachfrage ist groß. Die Kunden brauchen entsprechend viel Geduld. „Die Lieferzeiten bei einzelnen Produktgruppen sind noch immer kritisch“, sagt Thomas Rudel, Chef und Eigentümer von Rutronik, dem größten europäischen Distributor von elektronischen Bauelementen. Der Unternehmer aus der Nähe von Pforzheim verkauft jedes Jahr 120 Milliarden Bauteile.
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