Auf keiner Plattform verbreiten sich Desinformationen so schnell wie auf Tiktok. Das liegt vor allem am Algorithmus der App und seiner Audio-Funktion.
Tiktok und der Krieg
Fehlinformationen verbreiten sich auf der Videoplattform aus China besonders schnell.
Bild: Reuters
Düsseldorf Es war ein Paradebeispiel für Fake News: Auf Tiktok erzählte eine Frau in einem Selfievideo von ukrainischen Flüchtlingen in Euskirchen, die einen 16-jährigen Flüchtlingshelfer verprügelt haben sollen. Er sei sogar dabei gestorben. Das Video verbreitete sich rasant, auf Tiktok, Telegram, dann Twitter.
Doch: Nichts davon entspricht der Wahrheit. Die Polizei Bonn klärte auf, dass es sich um ein „Fake Video“ handle, das Recherchekollektiv „Correctiv“ fand Hinweise, die gegen die Echtheit des Videos sprachen. Mittlerweile hat sich die Frau sogar in einem neuen Video entschuldigt: Sie sei hereingelegt worden, ihr seien Lügen erzählt worden. Ihr Fake Video wurde aber bereits in Propagandamedien verbreitet.
Es ist nur eines von vielen Beispielen von Falschnachrichten, die sich auf der Videoplattform Tiktok immer wieder verbreiten. Eine neue Untersuchung des US-Medien-Start-ups Newsguard ergab, wer als neuer Nutzer durch Tiktok scrollt, bekommt innerhalb von 40 Minuten falsche oder irreführende Inhalte angezeigt.
Dabei erstellten im März sechs Analysten von Newsguard neue Konten auf der Plattform, nutzten sie 45 Minuten lang und sahen sich alle Videos mit Bezug auf den Ukrainekrieg in voller Länge an. Das Ergebnis: Sie alle bekamen in der Zeit zahlreiche Falschinformationen angezeigt.
Seit Beginn des Kriegs am 24. Februar wurden 29,7 Millionen Beiträge mit dem Hashtag Ukraine2022 veröffentlicht, für den Hashtag Ukrainewar waren es mehr als eine Milliarde. Auf Instagram hingegen wurde Ukrainewar 317.000-mal verlinkt, Ukraine2022 ganze 7100-mal.
Video von Panzern
Viele Tiktok Videos zum Krieg sind mit Musik versehen.
Die Bilder des Kriegs sind auf Tiktok nur einen Fingerstreich entfernt. Der Übergang zwischen banaler Unterhaltung und dem Schrecken ist fließend. Junge Leute, die Getränke testen, dann kommt ein Clip von einem Panzer auf der Straße – er schießt in Richtung eines Hauses, es knallt.
Noch ein Swipe, eine Jugendliche in Jogginganzug tanzt durch ihr Zimmer. Drei Videos weiter Soldaten im Schützengraben, sie schießen und werden beschossen. Ob die Videos wirklich aus der Ukraine stammen oder nicht, ist nicht zu erkennen.
Die App, die zum chinesischen Konzern Bytedance gehört, ist besonders bei jungen Nutzern sehr beliebt. Im September 2021 verkündete Tiktok erstmals eine Milliarde Nutzer monatlich weltweit. Das Technologie-Analyseunternehmen CB Insights bewertete Bytedance noch Jahr 2021 mit 140 Milliarden US-Dollar. Damit wäre es das wertvollste nicht börsennotierte Unternehmen der Welt.
Tiktok unterscheidet sich in der Nutzung von anderen Plattformen, da die Nutzer vor allem Inhalte produzieren sollen – nicht nur passiv konsumieren. Die Medienforscherin Hanna Klimpe von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg untersucht dies in einer Forschung zu der Plattform schon länger.
„Tiktok funktioniert memetisch“, sagt Klimpe. Das bedeute, man könne Inhalte schnell und leicht zitieren, neu in einen Kontext setzen, imitieren und leicht Content von anderen Nutzern übernehmen.
„Das ist die Taktik, mit der Tiktok geschickt dazu animiert, Inhalte zu kreieren.“ Dabei helfe etwa die „Stitch“-Funktion, mit der Nutzer die Videos von anderen in ihre eigenen einbinden und bearbeiten können.
>> Lesen Sie dazu: Das sind die größten Fake News zum Ukraine-Krieg
Auch der Algorithmus der App setzt auf Schnelligkeit und Masse. Er zählt, wie lange ein einzelnes Video angesehen wird, wie viele Likes und Kommentare es insgesamt bekommt und wem die Zuseher noch folgen. So werden vielgesehene Videos auch für viele auf die Startseite gespielt.
Tiktok Video zum Ukrainekrieg
Über eine Funktion in Tiktok können Nutzer Beiträge von anderen Nutzern wiederverwerten.
„Somit können auch falsche Inhalte sehr schnell übernommen, zitiert und reproduziert werden“, sagt Medienforscherin Klimpe. Und genau das geschieht auch mit Videos aus dem Ukrainekrieg.
Newsguard fand in seiner Untersuchung zum Beispiel Aufnahmen eines Feuergefechts, das eigentlich aus dem Jahr 2015 stammt und einen Kampf zwischen ukrainischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten in der Ostukraine zeigt. Oder Videos mit falschen Behauptungen, dass die USA Biowaffenlabore in der Ukraine betreiben oder das Land von einem neonazistischen Militär geführt wird.
Zu der Untersuchung erklärte eine Sprecherin von Tiktok, es handle sich nicht um „das normale Sehverhalten“ von Nutzerinnen und Nutzern auf Tiktok. „Wir reagieren auf den Krieg in der Ukraine weiterhin mit erhöhten Sicherheitsressourcen, um schädliche Fehlinformationen zu entfernen“, sagt sie. „Wir arbeiten auch mit unabhängigen Organisationen zur Überprüfung von Fakten zusammen.“
Marcus Bösch, Medienwissenschaftler und Tiktok-Forscher in Hamburg, weist auf „recycelte“ Audioaufnahmen hin, die über andere Videos in Tiktok gelegt werden können. „Was man häufig sehen kann, sind alte Aufnahmen oder Aufnahmen, die aus ganz anderen Kontexten stammen“, sagt Bösch. Einige Nutzer gaukeln vor, sich in der Ukraine zu befinden, sind aber gar nicht vor Ort.
Mit einer Audiofunktion in Tiktok, mit der man Tonaufnahmen von anderen Videos über die eigenen legen kann, sei dies möglich. Auch würden manche Nutzer Videos vom Krieg oder mit politischen Inhalten mit populärer Musik untermalen, um Reichweite zu generieren.
Auch Uschi Jonas, Faktencheckerin bei Correctiv, stellt fest, dass auf Tiktok immer mehr Falschnachrichten verbreitet werden. Ihr Team arbeitet nun an einem eigenen Monitoring für Fake News auf Tiktok. „Je mehr Elemente ein Video enthält, desto undurchsichtiger wird es, was daran bearbeitet wurde und was ‚echt‘ ist“, sagt Jonas. Sie empfiehlt eigene Taktiken, um Falschnachrichten zu erkennen, die sie auch beim Faktenchecken anwendet.
Man solle sich vor allem grundlegende Fragen stellen: Was wird in dem Video konkret behauptet? Werden Quellen angegeben? Berichten seriöse Nachrichtenseiten darüber? Außerdem, sagt Jonas, könne man sich Metadaten von Videos anschauen, also wann sie aufgenommen wurden und ob nachträglich eine Audiospur hinzugefügt wurde. Auch eine Bilderrückwärtssuche von Screenshots aus dem Video könne hilfreich sein.
Trotz allem, meint Klimpe, könne man Tiktok auch für seriöse journalistische Inhalte nutzen. Immerhin erreiche man dort junge Nutzer, die Nachrichten vor allem in den sozialen Medien suchen. Auch die Tagesschau betreibt etwa einen Tiktok-Account. „Man muss nur die Logik, wie dort Inhalte verbreitet werden, verstehen und sich darauf entsprechend vorbereiten“, sagt die Medienforscherin. „Tiktok war nie einfach nur eine lustige Unterhaltungsplattform.“
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