Bisher zog es Gründer meist nach Berlin oder München, um Millionen einzusammeln. Jetzt suchen Investoren selbst in Kleinstädten nach der nächsten Milliardenfirma.
Blick über Landshut
Das Start-up HiveMQ profitiert hier von der Nähe zur Forschung und dem deutlich geringeren Wettbewerb um Talente.
Bild: Getty Images
Düsseldorf, Frankfurt Die junge Technologiefirma HiveMQ erhält 40 Millionen Euro von internationalen Investoren. Es ist eine Nachricht, wie man sie aus der Start-up-Szene in Berlin häufig hört. Der Softwareanbieter für das Internet der Dinge (IoT) sitzt jedoch nicht in der Hauptstadt, sondern im niederbayerischen Landshut. Dort entwickelt er Infrastruktursoftware, mit der große Konzerne wie Audi, BMW und Honeywell ihre Autos, Maschinen und Drohnen in Echtzeit vernetzen.
HiveMQ habe die Chance, „die weltweit führende Plattform“ für den Datenaustausch zwischen IoT-Geräten zu werden, sagte Christoph Hornung vom britischen Investor Molten Ventures, der die Finanzierungsrunde anführt, am Mittwoch. Auch der Staatsfonds Mubadala aus den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie die Münchener Wagniskapitalfirmen Earlybird und Senovo beteiligen sich und finanzieren die Expansion nach Amerika.
Landshut mit seinen gut 70.000 Einwohnern ist eher für seine mittelalterliche Burg Trausnitz bekannt als für eine Technologielandschaft. Doch immer häufiger zeigt sich: Auch in der Provinz gehen Wagniskapitalfirmen jetzt auf die Suche nach potenziellen Milliarden-Start-ups.
Hendrik Brandis, Gründungspartner von Earlybird, sieht eine „klare Verschiebung“ in seinem Portfolio: Demnach gingen drei Viertel der Earlybird-Investments zwischen 2009 und 2014 in die neun größten europäischen Tech-Standorte, darunter London, Berlin, München, Paris und Amsterdam. Zwischen 2015 und 2021 sank die Quote auf 56 Prozent.
HiveMQ ist dafür nur ein Beispiel. Eine ganze Reihe von Firmen aus kleinen und mittleren Städten soll mit Investorengeld auf der ganzen Welt bekannt werden. Das zeigt eine Recherche im Handelsregister. Die Analysefirma Startupdetector hat dieses für das Handelsblatt auf Hinweise zu größeren Finanzierungsrunden in Gemeinden mit weniger als 100.000 Einwohnern durchsucht. Die Kriterien: Kapitalerhöhungen von 20 Prozent und mehr, mindestens zwei beteiligte Wagniskapitalgeber und eine zuvor abgeschlossene Finanzierungsrunde.
Herausgekommen ist eine Liste von 22 Firmen, die seit Anfang des vergangenen Jahres teils mit hohen Millionenbeträgen finanziert wurden. HiveMQ ist noch nicht eingerechnet.
Ein Großteil der Firmen kommt aus der Nähe von München. Dazu zählt Kewazo aus Garching: Mit den 4,2 Millionen Euro aus der zweiten Finanzierungsrunde im September will das Gründerteam um Artem Kuchukov und Ekaterina Grib seine Bauroboter-Technik weiterentwickeln.
Die 19.000-Einwohner-Gemeinde Gilching hat mit Agile Robots sogar schon ein Robotik-Einhorn vorzuweisen: Das Start-up wurde im September bei einer 186 Millionen Euro schweren Finanzierungsrunde mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet.
Aber auch anderswo wird investiert: In Hannoversch Münden in Niedersachsen hat der Allgemein- und Notfallmediziner Benjamin Gutermann eine Plattform zur medizinischen Ferndiagnose gestartet. Ende 2021 gab es sieben Millionen Euro zur Weiterentwicklung der Software von MetKitDoc. Creapaper aus Hennef nahe Bonn konnte 20 Millionen Euro aufnehmen, um mit seinem CO2-sparenden Graspapier für Hygieneprodukte, Lebensmittelverpackungen und Taschen zu expandieren.
>> Lesen Sie auch: Alle 157 Minuten wird in Deutschland ein Start-up gegründet – Welche Branchen gerade boomen
Zwei Faktoren treiben die Entwicklung. Zum einen steigt der Wettbewerb unter den Risikokapitalgebern. Da es viele neue Frühphasenfinanzierer gebe, sei es „für einige Investoren durchaus eine Strategie, abseits der Metropolen nach Top-Start-ups zu suchen“, sagt Investorin Romy Schnelle vom High-Tech-Gründerfonds.
Zum anderen spiele der anhaltende Trend zur digitalen Vernetzung eine gewichtige Rolle, sagt Earlybird-Partner Brandis: Früher hätten Start-up-Unternehmer ihre Mitgründer, Investoren, Mitarbeiter und Berater am ehesten in Start-up-Hochburgen gefunden. Nun fände das Networking zunehmend virtuell und ortsunabhängig statt.
„Die kritische Größe für Innovationen sind immer brillante Köpfe, davon sind 85 Prozent in den Regionen zu finden“, sagt Brandis. Jetzt könnten sie durch den Zugang zu Ressourcen ihr Potenzial nutzen.
Im Gespräch mit den Unternehmern klingt Gründen abseits von Metropolen fast wie ein Geheimtipp. „Der Standort Landshut hat uns nie geschadet, sondern eher geholfen“, sagt HiveMQ-Chef Christian Götz. Seine Firma profitiert von der Nähe zur Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW), an der sich die drei Gründer während ihres Informatikstudiums kennengelernt haben. „In Landshut an der Hochschule ist der Wettbewerb um Talente deutlich niedriger als in München.“
Philip Rürup wiederum findet Mitarbeiter oft bei etablierten Unternehmen. Ihr 2017 gegründetes Inkasso-Start-up Troy sitzt im westfälischen Lippstadt. „Wir haben im Umkreis relativ viele traditionelle Inkasso-Unternehmen, von denen immer wieder Mitarbeiter gern zu uns wechseln wollen“, sagt Rürup.
Christian Götz, Christoph Schäbel und Dominik Obermaier (v.l.):
Die Gründer von HiveMQ haben sich an der Hochschule in Landshut kennengelernt – und finden dort bis heute viele ihrer Mitarbeiter.
Bild: HiveMQ
Troy wickelt nach eigenen Angaben derzeit für etwa 70 Unternehmen Inkasso-Prozesse ab und wirbt damit, „Inkasso zu einem positiven Erlebnis“ zu machen. „Inkasso-Verfahren lösen oft große Verunsicherung aus“, sagt Rürup. Troy wolle „offen und transparent“ aufzeigen, wie der Prozess bei Zahlung und Nichtzahlung weitergehe. Unterstützung gibt es dabei auch von Psychologen. Der Ansatz überzeugt offenbar auch potenzielle Mitarbeiter – und Investoren.
Zuletzt hat Troy mehr als zehn Millionen Euro erhalten. Das Geld fließt in die Expansion: Die Firma will für Inkasso-Unternehmen in anderen Ländern als Dienstleister auftreten. So soll die Plattform künftig in Südafrika und Australien eingesetzt werden, die Abwicklung übernehmen Partnerunternehmen vor Ort.
>> Lesen Sie jetzt auch: Start-up-Duell zwischen Berlin und Paris: Wo sich Gründern bessere Chancen bieten
Beim Robotik-Start-up Coboworx überrascht der Standort wohl am meisten. Die Firma wurde 2019 in der rheinland-pfälzischen Weinbaugemeinde Osann-Monzel gegründet. Manche Start-ups in Berlin und München haben mehr Mitarbeiter, als Einwohner in der 1700-Seelen-Gemeinde an der Mosel leben.
Trotzdem haben Investoren das Start-up entdeckt, das prozessfertige Roboterzellen entwickelt und Roboterlösungen für kleine und mittelständische Unternehmen anbietet. Eine App hilft, den Roboter beispielsweise für eine Palettier-Aufgabe einzurichten. Im vergangenen September haben unter anderem Picus Capital und die Technologieholding Team Global 4,5 Millionen Euro in die Firma gesteckt.
Mitgründer Olaf Gehrels ist zuversichtlich, dass seine Firma mit derzeit 25 Mitarbeitern nicht so stark unter Fluktuation leiden wird wie Start-ups in Metropolen. Mitarbeiterbindung und Loyalität seien in ländlichen Regionen grundsätzlich deutlich höher, ebenso wie die Verweildauer im Unternehmen.
Ob HiveMQ in Landshut, Troy in Lippstadt oder Coboworx in Osann-Monzel: Zur Standort-Geschichte der jungen Start-ups gehört auch, dass sie alle inzwischen Büros in Großstädten eröffnet haben. „Wir haben erkannt, dass wir von den besten Software-Entwicklern der Welt nicht erwarten können, nach Lippstadt zu kommen“, sagt Philip Rürup. Deshalb habe seine Firma einen Standort in Hamburg aufgebaut, ein Büro im niederländischen Lemmer eröffnet und ermögliche inzwischen Fernarbeit von überall.
Ähnliche Erfahrungen hat Olaf Gehrels bei Coboworx mit bestimmten Fachkräften gemacht: Zwar ließen sich junge Talente grundsätzlich begeistern, für eine spannende Aufgabe in die Region zu ziehen. Doch bei Softwareingenieuren und Experten für digitale Produkte wie UI-Designer, die etwa für die visuelle Gestaltung von Benutzeroberflächen zuständig sind, sei dies deutlich schwerer. Für sie hat Coboworx Büros in Dresden und Berlin.
HiveMQ-Chef Christian Götz ist pragmatisch. Er will neue Büros dort eröffnen, wo er die Mitarbeiter findet, die seinen Vertrieb voranbringen können. Das erste wird gerade in München aufgebaut, beim zweiten denkt er an Nordrhein-Westfalen.
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×
Kommentare (1)