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20.03.2022

16:30

Ukraine-Krieg

Russlands Exportstopp für Getreide zwingt die Lebensmittelbranche zur Innovation

Von: Leonie Tabea Natzel

Russland will kein Getreide mehr liefern. Für die weltweite Agrarwirtschaft ist das eine Herausforderung, könnte aber technologische Lösungen der Branche antreiben.

Russischer Exportstopp zwingt die Lebensmittelbranche zur Innovation IMAGO/Martin Wagner

Traktor

Die Finanzierungen im Bereich Agrarwirtschaft stiegen im dritten Quartal 2021 auf ein Rekordhoch.

New York Russland hat den Export von Getreiden zeitweise gestoppt. Unter anderem Weizen, Gerste und Roggen werden bis Ende Juni nicht mehr geliefert. Das verkündete die zuständige Vizeregierungschefin Wiktorija Abramtschenko am Montag in Moskau. Ausnahmen gebe es im Rahmen einzelner Lizenzen. Die Ausfuhr von Zucker und Zuckerrohstoff soll sogar bis Ende August gestoppt werden.

Der Ukrainekrieg verändert die weltweite Agrarwirtschaft massiv. Denn Russland ist der größte Weizenexporteur der Welt, auch die angegriffene Ukraine gehört zu den wichtigsten Weizenproduzenten. Nicht umsonst wird das Land oft als „Kornkammer Europas“ bezeichnet, es liefert gemeinsam mit Russland rund 30 Prozent des Weizens weltweit, zudem Pflanzenöle, Mais und andere Pflanzen und Düngemittel.

Die OECD befürchtet nach dem Exportstopp bereits eine humanitäre Katastrophe. Ein Stopp der Weizenexporte aus Russland und der Ukraine führe in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern zu Engpässen. Durch die Unterbrechung der Düngemittelproduktion bestehe außerdem die Gefahr, dass die Unterbrechungen länger anhalten, da auch der Anbau der kommenden Jahre unter Druck gerate. Auch UN-Generalsekretär António Guterres warnt: „Wir müssen alles tun, um einen Hurrikan des Hungers und einen Zusammenbruch des globalen Ernährungssystems abzuwenden.“

Um den Mangel zu beseitigen, sind auch neue Ideen gefragt. Im Bereich der Agrartechnologie bewege sich aktuell viel, sagt die Futuristin Amy Webb, Gründerin des Future Today Institute inn New York. In der sogenannten Präzisionslandwirtschaft sammeln und verwerten Start-ups die Daten der Landwirtschaft. „So lässt sich mehr Ertrag aus den Pflanzen holen“, erklärt Webb bei der Tech-Messe SXSW im texanischen Austin. „Wenn man etwa Mais so manipulieren könnte, dass er mit weniger Wasser anstatt drei Jahre vielleicht zwanzig Jahre überdauert und widerstandsfähiger gegen den Klimawandel ist, wäre das sehr gut. Genau das werden wir brauchen.“

Einige Landwirte arbeiten dafür bereits mit Künstlicher Intelligenz, Robotik und anderen Technologien, die sie bei der Bewirtschaftung ihrer Felder unterstützen und dafür sorgen, dass jede Ernte produktiver ausfällt als die vorherige.

Technologische Lösungen bringen die Effizienz

Im Angesicht des Krieges müsse Europa jetzt umdenken, sagt Alex Frederick, Senior Analyst aufstrebende Technologien bei Pitchbook. „Viele Agrartechnologielösungen könnten eingesetzt werden, um die landwirtschaftliche Produktivität in Europa zu steigern. Wie etwa Robotermaschinen, Farmmanagement-Software und Lösungen zur Analyse von Satellitenbildern.“ Das Berliner Start-up Infarm, das dänische Unternehmen Blue Ocean Robotics und Perfarmer aus Frankreich gehören aktuell zu den wichtigsten Anbietern.

Auf einigen Farmen fahren schon jetzt autonome Traktoren, die mit einer App von den Landwirten gesteuert werden können. Das US-amerikanische Industrieunternehmen John Deere baut selbstfahrende Traktoren, die selbst Daten sammeln und an die Cloud senden. „Der Landwirt nutzt diese Informationen in Form von großen Datensätzen, um auch anderen Landwirten dabei zu helfen, bessere Entscheidungen für ihren Betrieb zu treffen. Und das nicht nur in dieser Anbausaison, sondern auch in Zukunft“, erklärt Jahmy Hindman, Chief Technology Officer bei John Deere.

Zuletzt hat das Unternehmen einen Dünge-Arm vorgestellt, der am Traktor montiert wird und automatisch erkennt, bei welchen Pflanzen es sich um Unkraut und bei welchen es sich um die gewünschte Zucht handelt. An dem Arm, der mehr als 30 Meter lang ist, sind 36 Kameras angebracht, die das Getreide in Echtzeit scannen, eine KI analysiert diese Daten.

„Software ist ein großer, wichtiger Trend, etwa hinsichtlich unserer Verwaltung von Inputs und Outputs, um die Effizienz des Betriebs zu steigern“, bestätigt Paul Condra, Head of Emerging Technology Research bei Pitchbook. „John Deere ist ein großer Traktorhersteller, der immer mehr in Richtung KI und Robotik geht, um seinen Betrieb zu verwalten. Das Unternehmen hat also tatsächlich die Big-Tech-Spur eingeschlagen.“

Die erste vernetzte Farm von Case IH in Brasilien.

Água Boa

Die erste vernetzte Farm von Case IH in Brasilien.

In Água Boa, Brasilien, ist gerade die erste „Connected Farm“ von Case IH, einem Ableger des börsennotierten niederländisch-britischen Industriekonzerns CNH Industrial, entstanden. Eine auf der Farm installierte 4G-Internetverbindung ermöglicht es, alle Betriebsabläufe auf der Farm zu überwachen und Daten zu sammeln. Die vernetzte Farm solle zeigen, wie Konnektivität die Produktivität auf dem Feld erhöhe, sagen die Macher. Und das, obwohl die Region schon vorher für ihre hohe Produktionsrate bekannt gewesen sei. Diese wolle man nun noch weiter steigern.

Das fällt nicht allen leicht, erklärt Eduardo Penha, Marketingdirektor bei CNH Industrial South America. „Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Landwirt und hätten in der vergangenen Dekade immer gleich gearbeitet“, sagt er. „Jetzt kauft Ihr Chef eine neue Maschine und bringt eine Menge verschiedener vernetzter Server mit. Wir zeigen den Farmern, dass sie so mehr Geld verdienen können.“

Die Finanzierungen im Bereich Agrarwirtschaft stiegen im dritten Quartal 2021 auf ein Rekordhoch: weltweit 3,2 Milliarden Dollar in 201 Deals – eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahresquartal. So heißt es in einem Report des Analystenhauses Pitchbook. Das jährliche Transaktionsvolumen für 2021 belief sich Stand September 2021 auf 7,8 Milliarden Dollar. Mehr Geld sorgte auch für größere Deals. Die Durchschnittswerte je Deal verdoppelten sich in etwa im Vergleich zum Vorjahr.

Grund für die Rekorde war vor allem die Pandemie, in der habe Agrar-Tech als sichere Bank gegolten, erklärt Analyst Condra. „Der Markt wird wahrscheinlich groß bleiben. Aber in Anbetracht all dessen, was derzeit in der Welt passiert, werden die Mittelzuflüsse wahrscheinlich zurückgehen, weil auch die Bewertungen der Unternehmen sinken.“

Erste Auswirkungen seien in der Ukraine bereits sichtbar, sagt Tech-Experte Alex Frederick, Senior Emerging Technology Analyst bei Pitchbook. „Erste Indikatoren deuten auf eine Verlangsamung der Risikokapitalaktivitäten in der Ukraine hin“, erklärt er. Agrar-Start-ups mit Hauptsitz in der Ukraine hatten im dritten Quartal 2020 noch einen Rekordbetrag von 17,8 Millionen Dollar eingesammelt, seitdem sei die Aktivität aber stetig zurückgegangen.

Im ersten Quartal 2022 verzeichnete er keinen Deal bei ukrainischen Start-ups mit Schwerpunkt Agrarwirtschaft mehr. Der Krieg hat das Risiko immens erhöht und stört die Investitionsmöglichkeiten. Dabei werden doch genau die damit finanzierten Technologien dringender denn je benötigt.

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