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22.12.2020

15:08

Interview

Verhaltensökonomin: „Eine Impfquote von 70 Prozent? Das erscheint mir zu hoch“

Von: Jannik Deters

Tarja Zingg erwartet, dass sich nur die Hälfte der Menschen gegen das Covid-19-Virus impfen lässt – und erklärt, was das mit Neujahrsvorsätzen zu tun hat.

Viele Menschen misstrauen den Vakzinen, weil sie sie für nicht ausgereift genug halten – oder ganz grundsätzlich der Impfung. dpa

Impfung in den USA

Viele Menschen misstrauen den Vakzinen, weil sie sie für nicht ausgereift genug halten – oder ganz grundsätzlich der Impfung.

Düsseldorf Am 27. Dezember starten in Deutschland die ersten Impfungen für Risikogruppen gegen das Covid-19-Virus. Bis weite Bevölkerungsteile geimpft sein werden, dürften viele Monate vergehen. Und sicher ist auch das nicht, denn die Impfung ist freiwillig. Tarja Zingg, Berkeley-Absolventin und Chefin der Beratungsagentur Lumina Health in Zürich, hält die bisherigen Umfragen zur Impfbereitschaft für unrealistisch.

„Menschen neigen dazu, ihr Engagement zur Förderung ihrer Gesundheit oder Verhinderung von Krankheit zu überschätzen“, sagt die Verhaltensökonomin. Das sei wie mit den Neujahrsvorsätzen: „Da gibt es eine große Kluft zwischen der Absichtserklärung und der realen Umsetzung.“

Regierungen und Behörden hätten zwar diverse Möglichkeiten, Menschen zu einer Impfung zu bewegen. In bestimmten Fällen sei eine befristete Impfpflicht aber „angebracht“, sagt Zingg.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Frau Zingg, gerade hat die europäische Gesundheitsbehörde Ema den Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer zugelassen. Wie hoch, schätzen Sie, wird die Impfquote sein?
Ich bin ziemlich sicher, dass die Impfquote wesentlich tiefer sein wird, als Umfragen dies heute andeuten. Eine Impfquote von 70 Prozent? Das erscheint mir zu hoch. Selbst 50 Prozent sind sehr optimistisch.

Weniger als die Hälfte? Wie kommen Sie darauf?
Wir kennen das von uns selbst: Menschen neigen dazu, ihr Engagement zur Förderung ihrer Gesundheit oder Verhinderung von Krankheit zu überschätzen. Typische Beispiele sind die Neujahrsvorsätze zu Sport, Rauchen oder gesunder Ernährung. Da gibt es eine große Kluft zwischen der Absichtserklärung und der realen Umsetzung.

Wie kann man Menschen argumentativ überzeugen?
Wenn Informationen fehlen oder Unsicherheit herrscht, ist wirksame Kommunikation sehr wichtig. Man muss die Zielgruppen ihrem jeweiligen Wissensstand und ihren Präferenzen entsprechend individuell ansprechen. Im besten Fall macht man ihnen klar, dass sie einen emotionalen, sozialen oder rationalen Nutzen davon haben, sich impfen zu lassen. Hochrisikogruppen und sehr ängstliche Menschen haben bereits eine hohe Impfbereitschaft. Sie werden nicht viel Überzeugung brauchen, sondern wollen nur wissen, wann und wo geimpft wird – und was das kostet.

Welche Gruppen sind schwieriger zu erreichen?
Menschen, die das Risiko und die Gefahr unterschätzen. Hier kann es helfen, den Fokus auf den Schutz der anderen, also Empathie oder Altruismus zu setzen.

Die Verhaltensökonomin studierte Volkswirtschaftslehre und Kommunikationsdesign an den Universitäten Zürich, Berkeley und Melbourne. PR

Tarja Zingg

Die Verhaltensökonomin studierte Volkswirtschaftslehre und Kommunikationsdesign an den Universitäten Zürich, Berkeley und Melbourne.

Was ist mit Impfgegnern?
Das Verhalten von Leuten, die zwar informiert sind, aber überhaupt keine Bereitschaft zur Impfung zeigen, kann man auf zwei Wege lenken. Sie könnten belohnt werden, wenn sie sich impfen lassen. Oder sogar bestraft, wenn sie es nicht tun. Dies birgt allerdings das Risiko, dass die freiwillige Impfbereitschaft kompromittiert wird.

Welche Rolle spielt Gruppendruck bei der Entscheidung dafür oder dagegen?
Sozialer Druck kann wirksam sein und bietet interessante Steuerungsmöglichkeiten. Leitfiguren wie führende Politikerinnen, Künstler, Musikerinnen oder Lehrer können mit gutem Beispiel vorangehen und eine Vorbildfunktion einnehmen. Ihre Empfehlungen können vertrauensfördernd wirken und das individuell empfundene Risiko einer Impfung senken.

Wie kann man denn Gruppendruck auf die sanfte Tour ausüben?
Eine Idee ist ein öffentlich sichtbarer Zähler, der laufend anzeigt, wie hoch die aktuelle Impfquote in einem Unternehmen ist. Ein Ansteckbutton mit der Aufschrift „I did it“ kann die Impfträgheit von Kollegen senken. Die Impfung wird so zum Akt der Solidarität gegenüber den Mitmenschen, die eine Erkrankung schwer treffen würde.

Was können Nudging, also leichte Veränderungen der Rahmenbedingungen, und eine Informationspolitik, die zum Impfen aufruft, bewirken?
Menschen mögen Standardvorgaben. Eine Opt-out-Methode kann die gewünschte Reaktion klar unterstützen. Damit würde für die gesamte Bevölkerung eine Impfung organisiert. Wer nicht impfen will, muss sich aktiv dagegen entscheiden. Diese Methode wirkt bei der Organspende sehr gut. Außerdem könnte man sich über soziale Medien digital verpflichten, die Impfung machen zu lassen. Diese Absichtserklärung würde bereits mit einem festen Impftermin verbunden und so verpflichtend wirken.

Was müssen Staaten und Behörden regulativ tun, um eine hohe Impfquote zu erreichen?
Sie müssen immer abwägen zwischen Eigenverantwortung und Zwang. Manchmal ist es einfach zu anstrengend, vernünftig zu sein. Reisende könnten verpflichtet werden, nur mit einem Immunitätsnachweis Grenzen überschreiten zu dürfen. Bei Hochrisikogruppen oder Menschen, die sozial in engem Kontakt mit Hochrisikogruppen sind, halte ich eine befristete Impfpflicht für angebracht.

Ist eine Impfpflicht in unseren kritischen Gesellschaften denn umsetzbar?
Natürlich wird in solchen Krisenzeiten schnell nach einer Impfpflicht verlangt. Dazu müssen die Gesetzesgrundlagen vorhanden sein. In der Schweiz darf niemand gegen seinen Willen geimpft werden. Die Kantone können aber eine zeitlich befristete, für definierte Personengruppen geltende Impfpflicht aussprechen. Dies könnte durchaus sinnvoll sein, wenn die Krise sich verschärft und die Übersterblichkeit massiv zunimmt.

Frau Zingg, vielen Dank für das Interview.

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