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15.04.2021

04:00

Gastkommentar

Wie der Klimaschutz die Geopolitik prägt

PremiumDas Ende des fossilen Zeitalters wird Sieger und Verlierer hervorbringen. Was jetzt zu tun ist, analysiert Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Er war Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. dpa, Montage

Der Autor

Jürgen Trittin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Er war Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

Am 22. April lädt US-Präsident Joe Biden zu einem Klimagipfel. Ein halbes Jahr vor der nächsten Klimakonferenz sind gut 40 Staats- und Regierungschefs am Earth Day eingeladen, mehr gegen die Klimakrise zu tun. Im Mittelpunkt sollen die wirtschaftlichen Vorteile des Klimaschutzes stehen.

Bidens Klimagipfel ist ein ostentativer Bruch mit der Politik des Klimaleugners Donald Trump. Biden hat den Klimaschutz zu einem strategischen Schwerpunkt seiner Amtszeit erklärt. Davon zeugt die Rückkehr ins Pariser Abkommen ebenso wie seine Absage an Ölbohrungen in Alaska und den Ausbau der Keystone Pipeline, die unter Inkaufnahme schwerer Umweltschäden Rohöl aus Ölsanden von Kanada in die USA transportiert.

Bidens 1,9 Billionen Dollar schweres US-Konjunkturpaket enthält massive Investitionen in Erneuerbare-Energie-Technologien und Infrastruktur. Die USA machen sich auf den Weg, das fossile Zeitalter zu verlassen – und das nicht zuletzt aus geostrategischen Gründen. Diese Entwicklungsrichtung korrespondiert mit Europas Green Deal, der den Kontinent vor 2050 klimaneutral machen soll.

China hat sich dasselbe Ziel bis 2060 gesetzt. Der größte Automobilhersteller der Welt, Volkswagen, setzt auf E-Mobilität – getrieben vom chinesischen Markt. Institutionelle Investoren beginnen, sich aus fossilen Investments zu verabschieden, und probieren sich in Green Finance.

Das alles ist nicht widerspruchsfrei und noch nicht unumkehrbar. Klimaschützer weisen zu Recht darauf hin, dass die Zusagen von Paris nicht ausreichen, die Welt auf einen 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Gerade deshalb ist Bidens Klimagipfel wichtig. Klimaschutz braucht ambitioniertere Zusagen – von den USA, von China, von Europa.

Doch mit dem Ende des fossilen Zeitalters verschieben sich die geostrategischen Gewichte. Über Jahrzehnte war die Verfügungsmacht über fossile Energie Quelle wirtschaftlicher Stärke und politischer Macht. Die globale Vorherrschaft der USA und Europas beruhte darauf. Wo sie infrage gestellt wurde, zögerte der „Westen“ nicht, seine Verfügungsmacht gewaltsam zu sichern, ob 1953 im Iran oder 2002 im Irak.

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Co-Direktorin des Center for Entrepreneurial and Financial Studies (CEFS) an der TU-München und zudem Mitglied in zwei Konzern-Aufsichtsräten

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Jürgen Trittin

Der Grünen-Politiker ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags und ehemaliger Bundesumweltminister.

Redaktion

Dr. Michael Brackmann, Bonn

Die strategische Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens für die USA beruhte auf der Schlüsselfrage der Verfügung über die dortigen Öl- und Gasreserven. Das hat sich verschoben. Der Irak-Krieg war der letzte Krieg der USA, in dem es um Öl ging. Er hat den Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Nahen Osten eingeleitet. Heute müssen die USA keinen Krieg mehr um Öl führen. Dank Fracking sind sie in der Lage, Öl- und Gaspreise als Swing Producer zu stabilisieren. Bei Kohle sind sie Nettoexporteur.

Wer nicht diversifiziert, wird destabilisiert

Geostrategie im postfossilen Zeitalter kennt Gewinner und Verlierer. Gewinner werden die Länder sein, die heute weit überwiegend ihren Energiebedarf durch fossile Importe decken. Dazu gehören China und Europa. Verlierer werden die Rentier-Gesellschaften sein, die vom Export fossiler Energie ihren Gesellschaftsvertrag wie eine regelmäßig korrupte Herrschaft finanzieren. Wer seine Wirtschaft nicht rechtzeitig modernisiert und diversifiziert, wird destabilisiert.

Die Diversifizierung aber bedroht, ob in Russland oder Saudi-Arabien, die herrschende Klasse. Schwindet das Monopol auf die Wertschöpfung, gerät das politische Monopol unter Druck. Saudi-Arabien versucht es unter Kronprinz Mohamed bin Salman mit einer brutalen Modernisierung von oben – und mit einer aggressiven Politik in der Nachbarschaft bis hin zum Völkermord im Jemen.

Russland dagegen hat Diversifizierung erst einmal vertagt. Wladimir Putins Hoffnung ist, dass Europa seine Klimaziele nicht so ernst nimmt. Zum anderen kann Russland sein Gas immer billiger verkaufen als die Konkurrenten aus Katar oder den USA. Die Exporterlöse investiert Moskau verstärkt in moderne Waffen, die das Land vor jeder Einmischung von außen sicher machen sollen. Ein hochgerüsteter Staat mit einer fragilen Wirtschaft – die Nach-Putin-Ära wird für Europa ungemütlich.

Dass wegen Öl kein Krieg mehr geführt wird, macht die postfossile Welt nicht sicherer. China, die USA und Europa aber stehen geostrategisch vor neuen Herausforderungen. Es ist nicht damit getan, Kohle durch Wind und Sonne sowie Gas durch grünen Wasserstoff zu ersetzen.

China treibt erneuerbare Energien massiv voran

Wenn Geostrategie heute vor allem Geoökonomie ist, dann entscheidet sich die künftige Rolle auf der Weltbühne an drei Fragen: Wie hoch ist die Geschwindigkeit, mit der fossile Energien durch erneuerbare ersetzt werden? Wie schnell kann die Infrastruktur diese Energie in Haushalte, Industrie und Fahrzeuge bringen? Wie ausgeprägt ist die Fähigkeit, hochkomplexe Netze zu steuern? Europa, China und die USA bringen da sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit.

Um seine Importabhängigkeit zu mindern und die wachsende Nachfrage zu decken, hat China den Ausbau erneuerbarer Energien massiv vorangetrieben. Es investiert gut das Zehnfache dessen, was der einstige Vorreiter Deutschland aufbringt. Doch viele dieser Investitionen laufen ins Leere, weil die Netze diese Energie nicht zu den Verbrauchern bringen. Chinas Investitionen und Fähigkeiten bei Künstlicher Intelligenz und Cloud-Computing hingegen sind denen Europas weit überlegen.

Die USA sind bei Letzterem immer noch die Nummer eins. Auch sie haben ihren Aufbau Erneuerbarer-Energie-Kapazitäten massiv gesteigert und investieren gut sechsmal so viel wie Deutschland. Dagegen kann von einem modernen Stromnetz, Voraussetzung für eine fossilfreie Stromversorgung, in den USA noch weniger die Rede sein als in China.

Auch wenn es weiterer erheblicher Investitionen in den Netzausbau bedarf, hat Europa hier die Nase vorn. Der Aufbau Erneuerbarer-Energie-Kapazitäten allerdings kommt nur unzureichend voran. Der Ersatz fossiler Energie bei Mobilität und Wärme wird den Strombedarf massiv erhöhen. Will Europa allein nur seine Klimaschutzziele für 2030 erreichen, muss Deutschland im kommenden Jahrzehnt doppelt so viel Wind und Sonne ans Netz bringen wie in den vergangenen zwanzig Jahren.

Erzeugten Wasserstoff vor Ort einsetzen

Europa sollte sich zudem von einer Illusion befreien. Die Idee, mit europäischer Technologie in der Sonne des Nahen Ostens billig Strom zu erzeugen, um damit Wasserstoff für die europäische Industrie zu produzieren, verkennt die Realität. Denn warum sollte der dort erzeugte Wasserstoff nicht vor Ort in Stahl- und Chemiewerken verwendet anstatt nach Europa verschifft werden?

Vor Ort erzeugter Stahl würde auch von keinem Carbon Boarder Adjustment (CO2-Grenzausgleich) aufgehalten, über den Europa und die USA derzeit sprechen. Denn der so erzeugte Stahl wäre klimaneutral – und würde überdies die politisch-wirtschaftlich fragilen Anrainer des Mittelmeers stabilisieren.

Für die postfossile Zukunft muss Europa die Geschwindigkeit beim Ausbau Erneuerbarer-Energie-Kapazitäten deutlich beschleunigen, seine Netze modernisieren und sein Defizit bei Cloud-Computing und Künstlicher Intelligenz überwinden. Dafür wären ambitioniertere Zusagen als die von Paris auf dem Klimagipfel am 22. April ein wichtiger und richtungsweisender Schritt.
Der Autor: Jürgen Trittin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Er war Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

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