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03.04.2020

11:40

Güterverkehr

Krisensicherheit: Regierung will systemrelevantes Netz für die Eisenbahn festlegen

Von: Dieter Fockenbrock

Eine Taskforce arbeitet an einem Krisennetz, das die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen kann. Die neue Bahn-Güterverkehrschefin sieht ein „historisches Zeitfenster“.

Seit Jahren verharrt der Anteil der auf der Schiene transportierten Waren in Deutschland bei 17 Prozent. dpa

Containerverladung bei DB Cargo

Seit Jahren verharrt der Anteil der auf der Schiene transportierten Waren in Deutschland bei 17 Prozent.

Düsseldorf In der Coronakrise wird die Eisenbahn zum strategisch wichtigen Verkehrsmittel, um die Versorgung der Wirtschaft und der Bevölkerung auch unter widrigsten Umständen sicherzustellen. Ziel der Bundesregierung ist es, ein „relevantes Grundversorgungsnetz“ für die Bahn festzulegen, das im Krisenfall funktionsfähig bleiben muss. Das erfuhr das Handelsblatt aus Kreisen der neu eingesetzten Taskforce unter Leitung des Bundesverkehrsministeriums (BMVI).

Deutsche Bahn sowie Verkehrs- und Wirtschaftsverbände suchen gemeinsam mit den Vertretern des Ministeriums nach dem optimalen Krisennetz. Zweimal hat das Gremium bereits virtuell getagt. Ein Ergebnis liegt noch nicht auf dem Tisch. Die Auswahl der Strecken im 33.000 Kilometer langen Eisenbahnnetz Deutschlands ist umstritten.

Sollen einfach alle wenig befahrenen Nebenstrecken gestrichen werden, müssen alle Containerterminals in Betrieb bleiben? Gibt es Warengruppen wie Lebensmittel, die Vorrang haben vor Industriegütern? Diese Fragen müssen geklärt sein, um die strategisch relevanten Strecken und Güterbahnhöfe, deren Leistungsfähigkeit und Ausweichmöglichkeiten zu bestimmen.

Eine „Rückfallebene“ in der Erwartung, dass „wir sie nie brauchen werden“, heißt es in den Kreisen. Etwa für den Fall, dass viele Lokführer und Fahrdienstleiter an Corona erkranken oder in Quarantäne müssen und deshalb kein regulärer Zugverkehr mehr möglich ist.

Als im August 2017 in Rastatt die Rheintalstrecke wegen eines Tunneleinbruchs bei Bauarbeiten wochenlang gesperrt werden musste, wurde das Problem offensichtlich: Es gibt keine Notfallpläne für solche Fälle. Die Rheintalbahn gilt als eine der verkehrsreichsten Strecken für den Gütertransport in Europa. Ist sie blockiert, gibt es bis heute keine leistungsfähigen Alternativstrecken.

Nun macht die Coronakrise erneut die Folgen für Logistikketten offensichtlich. Lkw stauen sich wegen Kontrollen an den Grenzen, viele ausländische Lkw-Fahrer dürfen nicht mehr nach Deutschland, an den Autobahnraststätten ist die Versorgung kritisch. Die Bahn rückt als Retter in der Not ins Zentrum.

Die Güterverkehrschefin der Deutschen Bahn, Sigrid Nikutta, findet es deshalb „sehr hilfreich, dass das BMVI alle Beteiligten koordiniert, um in Deutschland eine stabile Grundversorgung zu gewährleisten“.

Bahn preist „freie Kapazitäten“ an

Ohnehin will Nikutta die Chancen der Güterbahn in der Krise unbedingt nutzen. Seit 100 Tagen ist sie als neues Konzernvorstandsmitglied im Amt. Ihre Parole: „Wir fahren immer, auch über die Grenzen.“ Die Bahn habe „genügend freie Kapazitäten, um zusätzlich Güter zu transportieren“. Das Problem ist nur: Die Spediteure und die verladende Wirtschaft müssen davon überzeugt werden.

Immerhin hat die Bahn schon einige Achtungserfolge erzielt: Aus Italien werden nun wöchentlich unter anderem Pasta für Aldi Süd aus Neapel nach Nürnberg gefahren, im Gegenzug Verpackungsmaterialien nach Italien. Aus Holland kommen zusätzlich 80 Waggons Zellstoff, der zur Herstellung von Hygienepapieren oder auch Atemschutzmasken gebraucht wird.

Die Bahntochter DB Cargo hat eigens eine Hotline für Neukunden geschaltet. Und Nikutta, in Doppelfunktion Vorstandschefin von Cargo, wirbt kräftig um Kundschaft. Denn die Bahn hat freie Kapazitäten. „In den vergangenen Wochen fuhren wir täglich um die 2500 Güterzügen, derzeit sind es etwa 250 weniger“, sagt Nikutta. „Die können wir jetzt auch mit anderen Gütern beladen.“ Die Strecken seien frei. Weil auch einige Regionalzüge wegen Corona nicht fahren, sei die Bahn „pünktlich wie nie – auch Güterzüge“.

Grafik

Das Problem: Lkw-Flotten, die bislang für die Automobilindustrie unterwegs waren, stehen nun ebenfalls arbeitslos herum. Mit möglicherweise fatalen Konsequenzen für den Transportmarkt. In der Branche ist die Rede von „Kampfpreisen“, mit denen einige Lkw-Spediteure versuchten, neue Ladung zu ergattern.

„Mitgliedsunternehmen berichten, dass Transporte von der Schiene aus Preisgründen auf die Straße zurückverlagert werden, weil es anscheinend keinen Mangel an Lkw-Fahrern sowie freien Kapazitäten mehr gibt“, berichtet Peter Westenberger, Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE). Dazu kommt der stark gefallene Dieselpreis. Das macht den Lkw im Wettbewerb noch billiger.

Nikutta muss Kehrtwende bei DB Cargo managen

Abstellen muss Nikutta noch einen weiteren Nachteil der Eisenbahn. Züge sind zu lange unterwegs, vor allem wenn sie Grenzen überfahren. Zwar laufe der grenzüberschreitende Verkehr „derzeit flüssig“, versichert sie. Die Abwicklung der Aufträge wird allerdings neu organisiert. „Wir sind dabei, im grenzüberschreitenden Verkehr unseren Kunden schnell Angebote vorlegen zu können“. Das müsse „der Maßstab für die Zukunft sein“, sagt die Cargochefin der Bahn.

Nikutta ist davon überzeugt, dass „wir jetzt die Chance haben, mehr Verlader von der Schiene zu überzeugen. Was wir gerade bei DB Cargo leisten, kommt an. Wir bekommen viele positive Rückmeldungen von unseren Kunden und der Öffentlichkeit.“

Diesen Rückenwind will sie nutzen. Seit Jahren stagniert der Marktanteil der Schiene am gesamten Güterverkehr in Deutschland bei 17 Prozent. Vor allem die Bahntochter Cargo schneidet schlecht ab, konkurrierende Eisenbahnunternehmen sind viel erfolgreicher. DB Cargo hat schon die Hälfte des Marktes an private Güterbahnen verloren.

Nikuttas Aufgabe ist es, die beschworene, aber immer wieder gescheiterte Wende für DB Cargo einzuleiten. 2019 machte die Bahntochter 300 Millionen Euro Verlust, in diesem Jahr werden 400 Millionen Euro Minus erwartet. Das waren noch optimistische Pläne aus der Vor-Corona-Phase.

Die Bundesregierung will die Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene. So steht es im Koalitionsvertrag von Union und SPD, so hat es die Regierung im vergangenen Herbst noch einmal im Klimapaket bekräftigt. Und sie hat das ehrgeizige Ziel vorgegeben, bei steigendem Volumen im Gütertransport den Marktanteil der Bahn bis 2030 auf 25 Prozent zu steigern. Umgerechnet bedeutet das etwa 70 Prozent mehr Fracht auf der Schiene.

Eine gewaltige Aufgabe für die Branche. Vor allem aber auch für Sigrid Nikutta. Sie glaubt fest an das „historische Zeitfenster“ für den Güterverkehr in Europa. Und sie weiß, was von ihr erwartet wird. Sie soll der notleidenden Tochter DB Cargo einen gewichtigen Anteil an dem erwarteten Boom sichern. Die 51-Jährige ist Optimistin: „Abgerechnet wird am Schluss.“

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