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03.05.2022

11:18

Industriepolitik

Warum Deutschland beim großangelegten EU-Projekt für Gesundheit nicht mitmacht

Von: Julian Olk

Die EU will den Pharmasektor in Anbetracht der Pandemie-Erfahrungen großflächig fördern. Angela Merkel hatte das Projekt initiiert – doch jetzt ist Deutschland außen vor.

Christian Lindner und Robert Habeck dpa

Christian Lindner (l.), Robert Habeck (r.)

Der Finanz- und der Wirtschaftsminister haben offenbar unterschiedliche Vorstellungen bei der Unterstützung des Pharmasektors.

Berlin Namhafter kann eine Videokonferenz kaum bestückt sein. Unter anderem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Biontech-Chef Ugur Sahin sprachen im Mai 2021 über die Zukunft der Gesundheitsindustrie.

Sie kamen zu dem Ergebnis: Europa muss im Sinne seiner Souveränität den Sektor massiv fördern, um sich stärker internationaler Konkurrenz zu erwehren und nicht von China, Indien und den USA abhängig zu werden. Sie fassten einen Plan: Für die Gesundheitsindustrie soll ein „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) geschaffen werden. Inzwischen ist aus dem Plan ein Konzept geworden, hinter dem 16 EU-Staaten stehen – bloß Deutschland nicht. Die Aufregung in Politik und Wirtschaft ist groß.

Mit IPCEI werden wichtige Projekte von gemeinsamem europäischem Interesse bezeichnet. Unternehmen können sich auf die Teilhabe bewerben, was ihnen hohe staatliche Zuschüsse, Kredite und Garantien ermöglicht – weit umfangreicher als das EU-Beihilferecht im Normalfall zulassen würde. Bislang gibt es solche Projekte für Wasserstoff, Batteriezellen, die Chipindustrie und die Cloud.

Deutschlands Fehlen beim Pharmaprojekt überrascht doppelt. Die neue Bundesregierung hatte eine erhöhte Resilienz im Bereich der Gesundheit versprochen. Gleichzeitig hat Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine aktive Industriepolitik zu einem seiner wichtigsten Vorhaben auserkoren.

Nach Handelsblatt-Informationen scheiterte Deutschlands Teilnahme auch nicht an Habeck. Vielmehr hatte der Vizekanzler bereits eine Ministervorlage zur Zusage am Projekt auf seinem Schreibtisch, berichten Regierungskreise. Doch das Finanzministerium wollte die Mittel nicht freigeben, heißt es.

Unternehmen und Gewerkschaften werden bei Ministern vorstellig

In einem Brief hat sich nun eine Allianz aus führenden Pharmaunternehmen, darunter die Marktführer Johnson & Johnson, Roche und Novartis, gemeinsam mit der Gewerkschaft IG BCE, persönlich an Habeck und Finanzminister Christian Lindner (FDP) gewendet.

„Sehr geehrte Herren Bundesminister, wir appellieren eindringlich an Sie, das verbleibende Zeitfenster zu nutzen und zu prüfen, in welcher Weise Deutschland dieser zentralen Initiative beitreten kann“, heißt es in dem Schreiben, dass dem Handelsblatt vorliegt. Ansonsten drohe Deutschland „im Standortwettbewerb abzurutschen“.

Das Zeitfenster ist nahezu geschlossen. Das industriepolitische Projekt ist in zwei Phasen unterteilt. Die ersten Anträge der Unternehmen werden der Europäischen Kommission im Juni vorgelegt, dafür ist Deutschland bereits zu spät dran.

Die zweite Phase steht im Oktober an. Würde die Bundesregierung in den nächsten Tagen anfangen, die Bedarfe der Unternehmen zu sammeln, könnte es noch knapp reichen. Doch auch danach sieht es nicht aus.

Laut Manifest der anderen 16 EU-Staaten werden Vorhaben zur Entwicklung innovativer und umweltfreundlicher Technologien für die Herstellung von Arzneimitteln, Innovationen für die Behandlung von seltenen Krankheiten und zur Reaktion auf künftige Pandemien sowie die Entwicklung von Gen- und Zelltherapien gefördert. Eine halbe bis eine Milliarde Euro müsste aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden, heißt es aus Regierungskreisen.

Die will das Finanzministerium, dass auf Anfrage lediglich auf das Wirtschaftsministerium verwies, aber zumindest im laufenden Jahr offensichtlich weiter nicht bereitstellen. Habecks Haus erklärt, man habe das Manifest gar nicht unterschreiben können, weil der Haushalt aktuell noch abgestimmt wird.

Abhängigkeit von China, Indien und den USA „deutlich gestiegen“

Es bestehe grundsätzlich die Möglichkeit, dem Projekt noch nachträglich beizutreten. „Deutschland hat in den letzten Monaten sehr aktiv zur Gestaltung eines IPCEI Health beigetragen“, hieß es.

In den Aufstellungen des nahezu geeinten Bundeshaushalts für das laufende Jahr ist das Projekt jedoch nicht zu finden. Der finanzielle Spielraum ist angesichts des Ukrainekriegs, der hohen Energiepreise und der Nachwirkungen der Pandemie begrenzt.

Gleichzeitig will Lindner im kommenden Jahr die Schuldenbremse wieder normal gelten lassen. Da bleibt offenbar kein Geld für die Pharmaindustrie, die in den vergangenen Monaten ohnehin nicht schlecht verdient hat.

Ehemaliger Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) imago images/Chris Emil Janßen

Peter Altmaier

Auf den früheren Wirtschaftsminister geht die deutsche Industriestrategie vorrangig zurück.

Doch das sei ein zu kurzfristiger Blick, entgegnen Branchenvertreter. Die Abhängigkeit von China, Indien und den USA sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, erklärt Claus Michelsen, Chefökonom des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA).

„Gerade im Bereich innovativer Arzneimittel, bei denen Entwicklung und Produktion Hand in Hand gehen, wächst damit das Risiko, dass Europa signifikant an Boden verliert“, sagt er. Nur mit einem IPCEI könne Europa ein Gegengewicht bilden. Die Vertreter verweisen insbesondere auf Mittelständler, die anders als die Pharmariesen weniger im öffentlichen Blickpunkt stehen.

Auch im innereuropäischen Wettbewerb gibt es Probleme

Dazu gehört IDT Biologika, das auch Mitzeichner des Briefs an Habeck und Lindner ist. Das sachsen-anhaltinische Unternehmen mit 1600 Mitarbeitern arbeitet an der Effizienz von Impfstoffherstellungen. In der Pandemie setzten Johnson & Johnson sowie Astra-Zeneca auf IDT.

Das Unternehmen blickt auf eine mehr als 100-jährige Historie zurück. Geschäftsführer Jürgen Betzing macht sich jetzt allerdings Sorgen um die Zukunft. „Die USA und Asien, insbesondere China, haben die Wichtigkeit neuer Technologien in der Pharmaindustrie und des Bereichs Biotech erkannt. Dort wird massiv gefördert und auch strukturell unterstützt“, erzählt er.

Schon jetzt sei zu sehen, dass junge Wissenschaftler mit Ideen, die die Welt verändern könnten, sich lieber in China oder den USA als in Deutschland ansiedeln würden. „Können wir diese Entwicklung nicht stoppen, wären die Folgen verheerend“, warnt Betzing.

Er weist zudem daraufhin, dass es nicht nur um den Wettbewerb mit China und den USA gehe. „Dass Deutschland sich bislang dem IPCEI Health verweigert, bringt uns auch im europäischen Wettbewerb in die Bredouille“, sagt er.

Frankreich hat für die erste Runde bereits 1,5 Milliarden Euro für seine Gesundheitsindustrie versprochen. „Manche Unternehmen und Wissenschaftler wollen vielleicht gar nicht in die USA oder nach China – aber mit Frankreich oder den Niederlanden hätten sie sicher kein Problem, wenn die Bedingungen dort so viel besser sind“, sorgt sich Betzing.

Dabei dürfte auch die Bundesregierung langfristiges Interesse an IDT haben. Berlin hat mit dem Unternehmen Verträge zur Bereitstellung von Impfstoffen bis 2029 abgeschlossen.

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