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10.05.2023

04:00

Innovation Week

Frittenfett, Löwenzahn, Getreideabfälle: Wie erneuerbare Rohstoffe Erdöl ersetzen

Von: Bert Fröndhoff

Start-ups und Konzerne treiben die Bioökonomie voran. Aus Pflanzen und Müll soll wertvoller Rohstoff gewonnen werden. Doch die Nutzung hat Tücken.

Aus bestimmten Sorten lässt sich Kautschuk für Reifen gewinnen. Photodisc/Getty Images

Löwenzahn im Labor

Aus bestimmten Sorten lässt sich Kautschuk für Reifen gewinnen.

Düsseldorf Wer auf der Autobahn zwischen Köln und Bonn entlang riesiger Chemieanlagen fährt, ahnt nicht: Hier wird altes Frittenfett verarbeitet, womöglich vom letzten eigenen Besuch in einer Pommesbude.

Der Chemiekonzern Lyondell-Basell schüttet seit vergangenem Jahr im Werk Wesseling teilweise Altfett in seine Cracker. In diesen Herzkammern der Chemie werden Basisprodukte für Kunststoffe gewonnen – früher ausschließlich aus Erdöl, heute zunehmend auch aus wiederverwertbaren Quellen wie gebrauchtem Speisefett.

400 Kilometer nördlich ist gerade eine weitaus kleinere Anlage in Betrieb gegangen. Deren Verfahren soll die Portion Pommes aber ebenfalls nachhaltiger machen. In Buchholz bei Hamburg fertigt das Start-up Traceless Materials in einem Pilotprojekt einen Kunststoffersatz: Granulat, das aus Agrarabfällen gewonnen wird. Daraus können kompostierbare Frittengabeln hergestellt werden. Nach Gebrauch verschwindet das Material wieder.

Hinter beiden Projekten steckt die gleiche Idee: Es geht darum, den in der Wirtschaft benötigten Kohlenstoff nicht mehr aus fossilen Rohstoffen zu gewinnen. 150 Jahre lang hat die Chemie- und Materialwirtschaft ihre Produktion perfekt auf die Weiterverarbeitung von Rohöl und Erdgas ausgerichtet. Jetzt steht sie vor einer gewaltigen Herausforderung: Angetrieben von Zielen und Zwängen im Klimaschutz sucht die Industrie nach erneuerbaren Quellen mit besserer CO2-Bilanz.

Kohlenstoff ist nicht nur Hauptbestandteil im menschlichen Körper, sondern Basis nahezu aller modernen Materialien wie Kunststoffen. Der Bedarf wächst rasant: Bis 2050 wird sich der Verbrauch weltweit auf 1,15 Milliarden Tonnen pro Jahr verdoppeln, haben Forscher des Nova Instituts aus Hürth bei Köln jüngst berechnet.

Continental will Reifen aus Löwenzahn herstellen

Heute kommt die benötigte Menge zu 88 Prozent aus Erdöl und Gas. Für das Ziel einer CO2-freien Chemie im Jahr 2050 müsste der Wert auf Null sinken. Mit erneuerbaren Rohstoffen aus Abfall und Pflanzen wird das allein nicht zu schaffen sein.

„Wir werden einen Dreiklang brauchen“, sagt Michael Carus, Wissenschaftler und Chef des auf biobasierte Wirtschaft spezialisierten Nova-Instituts. Recycling von Kunststoffen und Chemikalien gehört dazu, ebenso das direkte Gewinnen von Kohlenstoff aus CO2. „Aber ohne die innovative Nutzung von Biomasse wird das Ziel nicht erreichbar sein.“

Entsprechend treiben Start-ups und Konzerne die Entwicklung jetzt voran. Der Reifenhersteller Continental arbeitet mit mehreren Partnern daran, Autoreifen eines Tages im großen Stil aus Löwenzahn herstellen zu können. Bisher wird der benötigte Kautschuk synthetisch aus fossilen Rohstoffen oder auf natürliche Weise aus Bäumen in Asien gewonnen.

Der Rohstoff dafür stammt vom „Russischen Löwenzahn“. imago images/Joerg Boethling

Fahrradreifen von Continental

Der Rohstoff dafür stammt vom „Russischen Löwenzahn“.

Doch auch der Milchsaft des in Europa anbaubaren „Russischen Löwenzahns“ enthält Kautschukstoffe. Einen Fahrradreifen hat Continental auf dieser Basis schon produziert. Ziel des langfristigen Projektes ist die Industrialisierung des Anbaus von Kautschuk-Löwenzahn und die Nutzung in der Autoindustrie für Reifen und Gummis.

Traceless entwirft kompostierbare Kunststoff-Alternative

Eine Produktion im industriellen Maßstab wollen auch die Gründerinnen Anne Lamp und Johanna Baare erreichen. Ihr 2020 gegründetes Start-up Traceless Materials ist für sein innovatives Verfahren mehrfach ausgezeichnet worden: Das Material zum Ersatz herkömmlichen Plastiks wird ausschließlich aus in der Natur vorhandenen Biopolymeren gewonnen. Sie sind nicht chemisch modifiziert oder synthetisch hergestellt.

Die Stoffe stammen aus Resten der industriellen Getreideverarbeitung in Brauereien oder der Stärkeherstellung. Von klassischem Kunststoff, der nicht kompostierbar ist, unterscheide sich das Traceless-Material komplett, sagt Geschäftsführerin Lamp. Die Einsatzmöglichkeiten etwa bei Verpackungen seien aber vergleichbar.

Das Material zum Ersatz herkömmlichen Plastiks wird ausschließlich aus in der Natur vorhandenen Biopolymeren gewonnen. Traceless Materials

Produkte von Traceless Materials

Das Material zum Ersatz herkömmlichen Plastiks wird ausschließlich aus in der Natur vorhandenen Biopolymeren gewonnen.

Überprüfen kann man dies aktuell in einer Hamburger Filiale des Textilhändlers C&A: Dort hängen Sockenpaare an Kleiderhaken von Traceless, die nach dem Einkauf auf dem heimischen Kompost oder in der braunen Tonne landen. Die Lufthansa prüft, das Material für die Verpackung der Bordverpflegung zu nutzen.

Der Versandhändler Otto will den kompostierbaren Stoff für Versandtaschen einsetzen. Doch bei Tests zeigte sich im April: Die Taschen konnten nicht sicher genug mit Kleber verschlossen werden.

Dem Gründerduo ist klar: Durchsetzen wird sich die Innovation nur bei Akzeptanz der Kunden und bei einem konkurrenzfähigen Preis. Dazu will die Firma die Produktion zügig auf industrielles Niveau skalieren. Eine Million Tonnen des Materials will die Hamburger Firma im Jahr 2030 herstellen.

Pelze und Kragenfutter aus Zucker

Das US-Unternehmen Covation Biomaterials wiederum hat ein Verfahren entwickelt, mit dem es die Bekleidungsindustrie erobern will. Die Firma aus dem Bundesstaat Delaware bietet die ersten kommerziell erhältlichen Kunstpelzmaterialien auf pflanzlicher Basis an.

Derzeit sind Jackenfutter, Kragenbesätze oder gefütterte Schuhe zwar frei von tierischem Ursprung, der Kunststoff entsteht jedoch auf Basis von Erdöl. Das Material von Covation wird aus Maiszucker gewonnen und soll in Sachen Kuschelfaktor, Strapazierfähigkeit und Designmöglichkeiten mithalten, wirbt das Unternehmen.

„Biobasierte Kohlenstoffquellen haben enormes Potenzial“, sagt Markus Steilemann, Vorstandschef von Covestro. Der Kunststoffhersteller will in den kommenden Jahren verstärkt erneuerbare Rohstoffe einsetzen. Doch Steilemann mahnt: Man werde in den kommenden Jahren zwar rasantes Wachstum bei einzelnen Produkten sehen. Der große Durchbruch aber werde Jahrzehnte benötigen.

„Biobasierte Kohlenstoffquellen haben enormes Potenzial.“ imago images/Rainer Unkel

Markus Steilemann

„Biobasierte Kohlenstoffquellen haben enormes Potenzial.“

Nachfrage ist zweifellos schon heute genug für die Firmen da, die auf alternative Rohstoffe spezialisiert sind. Potenzielle Kunden aus Verpackungs- oder Konsumgüterindustrie haben sich ambitionierte Ziele für die Senkung der von ihnen verantworteten Treibhausgasemissionen gesetzt. Mit dem Einkauf von grünem Strom allein ist es nicht getan: Sie müssen auch in ihren Lieferketten für einen geringeren CO2-Fußabdruck sorgen.

So sollen bei Ikea bis 2030 alle verwendeten Kunststoffe aus dem Recycling kommen oder auf Basis nachwachsender Rohstoffe entstanden sein. Aktuell werden bei den Schweden etwa Gefrierbeutel aus Zuckerrohr-Material verkauft. Der Konsumgüterhersteller Unilever will ebenfalls bis 2030 seine Reinigungsprodukte rohölfrei produzieren.

Bei der Umstellung sind die Firmen auf die Innovations-Abteilungen ihrer Zulieferer angewiesen. Die Essener Evonik hat für Unilever eine neue Technologie für waschaktive Substanzen entwickelt. Die verwendeten Tenside werden nicht wie üblich aus Rohöl oder tropischem Palmöl gewonnen. Sie basieren auf einem speziellen Zucker-Kohlenstoff.

Konkurrenz zu Nahrungsmittel-Produktion

Den Outdoorspezialisten Vaude beliefert Evonik mit einem biobasierten Kunststoff, der aus dem Öl der Rhizinuspflanze hergestellt wird. Das Verfahren hat sich am Markt bewährt. Vaude verwendet mittlerweile bei einem großen Teil seiner Kollektion diese Produkt anstelle erdölbasierter Garne, weil sie Firma auch in Sachen Widerstandsfähigkeit überzeugten.

So innovativ und nachhaltig die Verfahren erscheinen: Die stoffliche Nutzung der Biomasse stößt auch auf Kritik. Das Freiburger Öko-Institut etwa hält die Verfügbarkeit für limitiert, weil die globalen Anbauflächen begrenzt sind. Es entstehe in vielen Fällen eine Konkurrenz um Flächen, beispielsweise für die Erzeugung von Lebensmitteln. Die Kernfrage lautet: Hat die Lebensmittelherstellung Vorrang vor dem Anbau von Pflanzen für die industrielle Nutzung?

Wissenschaftler Michael Carus vom Nova-Institut wünscht sich differenzierte Antworten darauf. Grundsätzlich erwartet auch er, dass der Einsatz von Biomasse in der Industrie wegen der Konkurrenz zum Nahrungsmittelanbau Grenzen hat. „Es kommt aber immer auch auf die Anbaufläche und die Pflanzenart an“, sagt er.

Der Chef des Nova-Instituts plädiert für eine differenzierte Betrachtung, was den Einsatz von Biomasse in der Industrie angeht. Foto Vogt GmbH/Euroforum

Wissenschaftler Michael Carus

Der Chef des Nova-Instituts plädiert für eine differenzierte Betrachtung, was den Einsatz von Biomasse in der Industrie angeht.

Die Rhizinuspflanze etwa muss weder gedüngt noch bewässert werden, sie wächst auf trockenen Flächen, auf denen herkömmliche Landwirtschaft ohnehin kaum möglich ist. Für industriell verwendetes Zuckerrohr werden späte Ernten auf Flächen genutzt, die für Lebensmittelzucker nicht geeignet sind.

Unternehmerinnen wie Traceless-Chefin Lamp sehen es dennoch als besten Weg an, die neuen Rohstoffe aus Abfall zu gewinnen. Das Frittenfett für das Chemiewerk in Wesseling fällt auch in diese Kategorie. Der finnische Neste-Konzern sammelt es in der Gastronomie ein und bereitet es für die stoffliche Nutzung in der Industrie auf. Für seine Verfahren zur Schaffung einer Kreislaufwirtschaft sind die Finnen gerade ins Finale des Europäischen Erfinderpreises 2023 eingezogen.

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