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Special

Special: Cum-Ex

25.05.2020

09:42

Cum-Ex-Skandal

Staat kommt bei Aufarbeitung des historischen Steuerbetrugs nicht hinterher – Verjährungen drohen

Von: Volker Votsmeier, Sönke Iwersen

Die federführende Staatsanwaltschaft Köln versinkt in der Cum-Ex-Affäre in immer neuen Fällen, die versprochene Stellenaufstockung verpufft. Wie kann das sein?

Das Gericht hat sich seit zwei Jahren auf eine nie da gewesene Serie von Hauptverhandlungen vorbereitet. Reuters

Das Landgericht in Bonn

Das Gericht hat sich seit zwei Jahren auf eine nie da gewesene Serie von Hauptverhandlungen vorbereitet.

Köln, Düsseldorf Eine juristische Jahrhundertaufgabe wartet und das Landgericht Bonn ist bereit. „Wir wussten, was auf uns zukommt, darauf haben wir uns technisch und personell eingestellt“, sagt Gerichtspräsident Stefan Weismann. 

Die Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals umfasst eine Steueraffäre mit mehr als 100 verwickelten Banken auf vier Kontinenten und letztlich wohl gut 1.000 Verantwortlichen. Speerspitze der Aufklärung ist die Staatsanwaltschaft Köln. Ihre Anklagen liefert sie ans Landgericht Bonn – doch genau an der Stelle hakt es.

Das Gericht hat sich seit zwei Jahren auf eine nie da gewesene Serie von Hauptverhandlungen vorbereitet. Eine eigene Strafkammer wurde eingerichtet, ein ganzes Team von Richtern arbeitete sich in die komplizierte Materie um Aktienhandel, Leerverkäufe und grenzüberschreitende Termingeschäfte ein. „Für den Rechtsstaat ist es immens wichtig, auch solchen komplexen Verfahren gewachsen zu sein“, sagt Gerichtspräsident Weismann.

Der Anfang ist gemacht. Im März sprach die 12. Große Strafkammer das erste Urteil in Sachen Cum-Ex, ihre Berichterstatter und Beisitzer könnten künftig eigenen Kammern vorstehen.

„Wir sind mit unserem Personalkonzept in der Lage, in der Spitze bis zu zehn Strafkammern für Cum-Ex-Verfahren zu eröffnen und mehrere Hauptverhandlungen parallel zu führen“, sagt Weismann. „Aber das scheint im Moment schwierig zu sein. Wenn die Dinge nicht beschleunigt werden, droht in einigen Fällen die absolute Verjährung.“ Viele der Verantwortlichen in Deutschlands größtem Steuerskandal würden dann ohne Anklage davonkommen.

Wie konnte das passieren? Seit Jahren wettert die deutsche Politik gegen die Banken, Investoren und Steueranwälte, die ihrer Ansicht nach bandenmäßig in die Steuerkasse griffen. Bei Cum-Ex-Geschäften gaukelten die Beteiligten den Finanzämtern vor, es gebe zwei Eigentümer derselben Aktie. Einer von ihnen führte die Kapitalertragsteuer ab, zwei ließen sie sich „erstatten“. Der Schaden für die Steuerzahler wird auf zwölf Milliarden Euro geschätzt.

„Frech, dreist und verachtenswert“ nannte Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Methoden der Finanzelite. Sein Vorgänger Wolfgang Schäuble sagte, Cum-Ex-Geschäfte seien „rechtswidrig, um das zu erkennen, muss man nicht viele Semester Jura studiert haben“. Die Verantwortlichen, so der politische Konsens, müssten zur Verantwortung gezogen werden. Doch die Männer, die als Tiger der Aufklärung sprangen, wirken heute wie Bettvorleger.

Justizminister Biesenbach machte Cum-Ex zur Chefsache

Peter Biesenbach war ganz beseelt von seinem Angriffsplan. Der Justizminister von Nordrhein-Westfalen empfing am 17. September 2019 Journalisten zu einer Pressekonferenz; an seiner Seite der Chef der Kölner Staatsanwaltschaft Joachim Roth und Hauptabteilungsleiter Torsten Elschenbroich.


Gemeinsam kündigten sie eine „drastische Verschärfung im Kampf gegen Steuerkriminalität“ an. Die Abteilung in der Staatsanwaltschaft Köln, die sich mit Cum-Ex-Geschäften befasste, würde verdoppelt. Er werde nichts unversucht lassen, um den Skandal aufzuklären, sagte Biesenbach. Er habe „Cum-Ex zur Chefangelegenheit erklärt“.

Es hatte eine Weile gedauert. Biesenbach war seit Juni 2017 Justizminister. Als er sein Amt antrat, war das Ausmaß der Cum-Ex-Affäre längst publik.

Das Handelsblatt berichtete im Januar 2016 von einem USB-Stick, den das NRW-Finanzministerium für fünf Millionen Euro von einem Insider gekauft hatte. Darauf enthalten: Details von Cum-Ex-Geschäften von mehr als 130 Finanzinstituten aus aller Welt, eine von ihnen gleich um die Ecke von Biesenbachs Büro: die WestLB, inzwischen in Portigon umbenannt.

Fast vier Jahre lang bestritt die Bank dann eine Beteiligung an Cum-Ex-Geschäften. Ende 2019 aber bildete Portigon mehrere Hundert Millionen Euro an Rückstellungen – für „in Vorjahren möglicherweise unbegründet angerechnete Kapitalertragsteuer sowie damit im Zusammenhang stehende Zinszahlungen“. Auf Nachfrage ergänzte ein Sprecher, dies betreffe „ausschließlich Cum-Ex-Geschäfte“.

Ein bisschen weiter weg von Biesenbachs Schreibtisch, aber immer noch in seinem Machtbereich, hatte sich 2017 die Staatanwaltschaft Köln einen Namen gemacht. Aus einem baufälligen Gebäude in Köln-Sülz heraus betrieb ein kleines Team von Ermittlern ein Cum-Ex-Verfahren nach dem anderen. Vor allem Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, so hörte man in betroffenen Banken und Kanzleien, war dank ihrer Akribie und ihres Arbeitseinsatzes bundesweit, ja weltweit gefürchtet.

Die bekanntesten Geldhäuser der Welt sind verdächtig

Ihr oberster Dienstherr Biesenbach lobte die Staatsanwaltschaft Köln in höchsten Tönen, hatte aber Schwierigkeiten zu erklären, warum er ihr nicht half. Die Beamten nahmen es mit den bekanntesten Geldhäusern der Welt auf. Die Deutsche Bank, die spanische Santander, die britische Barclays, die französische Société Générale, die australische Macquarie, der US-Finanzriese Blackrock.

56 Verfahrenskomplexe mit 400 Beschuldigten mussten bearbeitet werden, darunter ehemalige und sogar aktive Vorstände. Alle verteidigten sich energisch und bestritten eine Schuld. Der Kölner Personalplan für den Versuch, das Gegenteil zu beweisen: 4,7 Ermittlerstellen.

Der Minister hatte eine Aufstockung der Ermittlerteams in Aussicht gestellt. dpa

NRW-Justizminister Peter Biesenbach

Der Minister hatte eine Aufstockung der Ermittlerteams in Aussicht gestellt.

Im September 2019 sollten es fünf mehr werden. Justizminister Biesenbach feierte das als Machtdemonstration des Rechtsstaats, seine Adjutanten pflichteten ihm bei.

Es sei schon ganz richtig gewesen, den größten Steuerskandal Deutschlands mit einer minimalen Personalstärke anzugehen, erklärte Oberstaatsanwalt Elschenbroich. Lange Zeit sei es erst einmal ums Verstehen der komplexen Fälle gegangen. Es hätte daher „nichts gebracht, wenn zehn Staatsanwälte Akten gewälzt hätten, ohne zu wissen, wonach sie suchen sollten“.

Behördenchef Joachim Roth ergänzte: „Es kam darauf an, einen Faden zu entwirren und das Knäuel dann neu zu ordnen. Da nützt es nichts, wenn 100 Leute an dem Faden ziehen oder einer das macht und 99 schauen zu.“
An jenem Tag wurde deutlich, dass sich das Prinzip der Arbeitsteilung, immerhin einige Hundert Jahre alt, nicht bis ins NRW-Justizministerium herumgesprochen hatte. Heute ist klar: So richtig wichtig nimmt die Landesregierung den massenhaften Griff in die deutschen Steuerkassen wohl noch immer nicht.

Ein Staatsanwalt für zehn Großfälle mit 100 Beschuldigten

Auf dem Papier arbeiten laut Justizministerium aktuell 8,7 Staatsanwälte und eine Abteilungsleiterin an den Cum-Ex-Fällen. Doch Abgänge stehen bevor.

Viel problematischer allerdings: Die Arbeit wird immer umfangreicher. Waren im September 2019 noch 56 Verfahrenskomplexe mit 400 Beschuldigten aufzuklären, so sind es heute 61 Verfahrenskomplexe und mehr als 800 Beschuldigte.

In dieser Statistik nicht einmal enthalten: Zwei Ermittlungsverfahren wurden gerade von der Steuerfahndung Düsseldorf nach Köln geschickt, fünf weitere von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf nach Köln übertragen. „Insgesamt handelt es sich insoweit um etwa 80 Beschuldigte“, sagt ein Ministeriumssprecher auf Nachfrage. Darunter Großbanken und der Skandalfall WestLB, von dem schon 2016 in der Zeitung stand.

Die Idee, all die Arbeit nach Köln zu schicken, kam aus Düsseldorf. Am 17. Februar, so erklärt das Justizministerium, habe der Leitende Oberstaatsanwalt in Düsseldorf „eine Anregung“ gegeben. Die Cum-Ex-Fälle seiner Behörde mögen doch nach Köln übertragen werden, seine eigene sei hochbelastet.

Der Generalstaatsanwalt in Düsseldorf habe diesen Vorschlag am 26. Februar begrüßt. Die Bündelung sämtlicher Cum-Ex-Verfahren in Köln sei „im Interesse eines unmittelbaren und zeitnahen Informationsaustausches zweckmäßig und zielführend“.

Das Handelsblatt fragte in der vergangenen Woche das NRW-Justizministerium, wie das funktionieren soll. 48 Stunden später kam die Antwort. Eine Bewertung der aktuellen Zahlen könne „mit Rücksicht auf Komplexität und Bedeutung der Cum-Ex Verfahren in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht erfolgen“.

Wie ein Miniteam aus Köln es zeitnah mit fast 900 Beschuldigten aus vier Kontinenten aufnehmen soll, bleibt also das Geheimnis des NRW-Justizministeriums.

Ein „Durchbruch“ sei es gewesen, die Beschuldigten im ersten Cum-Ex-Prozess zum Reden zu kriegen, frohlockte Justizminister Biesenbach im September 2019. Nun gebe es eine Blaupause für alle weiteren Verfahren. Und all denen, die da auf die Anklagebank kommen, riefe er zu: „Unser Rechtsstaat ist stark!“

Er ist aber nur langsam. Das erste Urteil im Cum-Ex-Skandal liegt zwei Monate zurück. Die Staatsanwälte bereiten nun die nächste Anklage vor. Das Strafverfahren betrifft vier aktuelle und ehemalige Banker der M.M. Warburg Gruppe.

Anders als im ersten Prozess bestreiten die Beschuldigten eine Schuld – das macht das Verfahren nicht kürzer. Frühestens im Herbst, schätzen Insider, könnte eine dritte Anklage folgen. Würde weiterhin jeder Fall sukzessive abgehandelt, wären noch sehr viele Jahre erforderlich.

Die „Anklagen im Akkord“, die Justizminister Biesenbach im September versprach, sind nicht zu erkennen. Sein Verantwortungsbereich steckt damit in einer absurden Situation. Kaum je zuvor hat sich ein deutsches Gericht so auf die Aufarbeitung eines Wirtschaftsskandals vorbereitet wie das Landgericht Bonn. Das Auftaktverfahren war ein voller Erfolg, die Beschuldigten weitgehend geständig. Das – noch nicht rechtskräftige – Urteil versprach dem Steuerzahler 176,5 Millionen Euro Schadensersatz.

Banken und Banker hoffen auf Verjährung

Zehn solcher Verfahren gleichzeitig könnte das Gericht nun bearbeiten – ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte – und ein Signal an all jene senden, die den Steuerzahler „beschissen“, wie es Roland Zickler ausdrückte, der Vorsitzende Richter der Bonner Strafkammer. Doch die Staatsanwaltschaft Köln kann die alten Fälle gar nicht so schnell anklagen, wie ihr neue zugeschoben werden.

Insider berichten von einem Stimmungswechsel unter den Steuersündern. Habe es angesichts des Aufmarsches in Bonn vor einem Jahr noch die Neigung gegeben, sich bloß schnell und glimpflich mit der Justiz zu einigen, würden mehrere Beschuldigte auf Konfrontation und Verzögerung umschalten. Ihre Botschaft an den Rechtsstaat: Ihr werdet ja doch nicht rechtzeitig fertig.

So kommt zu dem Schaden, den der Steuerzahler schon hat, nun auch noch der Spott. „Weil es um bandenmäßigen Betrug geht, beträgt die Verjährungsfrist 20 Jahre“, sagt Stefan Weismann, der Präsident des Bonner Landgerichts. Das sei im Prinzip eine lange Zeit.

Aber die Mehrheit der Cum-Ex-Geschäfte, die es zu bewerten gelte, lag zwischen 2007 und 2009. Die erste Verjährung wäre also 2027. Weismann: „Bei der Vielzahl und Komplexität der Fälle ist das nicht mehr allzu fern.“

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