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19.08.2019

09:50

BCG-Studie

Wo der Einsatz von Wasserstoff sinnvoll ist – und wo nicht

Von: Kathrin Witsch

Für viele gilt grüner Wasserstoff als Garant für eine erfolgreiche Energiewende. Experten sehen zwar tatsächlich ein großes Potenzial, warnen aber vor einem Hype.

Für Pkw sehen die Studienautoren ebenfalls den batterieelektrischen Antrieb vorne, in der Industrie sei grüner Wasserstoff hingegen alternativlos. dpa

Eine Wasserstofftankstelle

Für Pkw sehen die Studienautoren ebenfalls den batterieelektrischen Antrieb vorne, in der Industrie sei grüner Wasserstoff hingegen alternativlos.

Düsseldorf Wo vor zwei Jahren noch viele von einer „vollelektrischen Gesellschaft“ schwärmten, taucht in Debatten über die Energiewelt der Zukunft heute immer öfter die Power-To-X-Technologie auf. Von den fehlenden Speichermöglichkeiten für erneuerbare Energien, über Einsparpotenzial beim Netzausbau bis hin zur Alternative zum Elektroauto – Wasserstoff, der Alleskönner heißt es oftmals.

„Neben dem sehr realen Potenzial von grünem Wasserstoff existiert gerade ein gefährlicher Hype“, warnen Experten der Unternehmensberatungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) in einer neuen Studie, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt.

Anstatt Milliarden für die Vision einer Wasserstoff-Gesellschaft auszugeben, sollten sich Investitionen in die vielversprechende Technologie lieber auf Anwendungen konzentrieren, in denen sie auch wirtschaftlich sinnvoll sind, so das Fazit der Studienautoren.

„Wir glauben, dass es großes Potenzial gibt, wenn man grünen Wasserstoff in Anwendungen forciert, in denen er sich langfristig wirklich durchsetzen kann. Vor allem in der Industrie, außerdem im Schwerlast- beziehungsweise Flug- und Schiffsverkehr“, sagt Frank Klose, Mitautor der Studie. Wenn Politik und Industrie sich auf diese Bereiche konzentrieren würden, könnte der Markt für grünen Wasserstoff schon im Jahr 2050 auf den Wert von einer Billion Dollar anwachsen, rechnen die BCG-Experten vor.

Die lange vernachlässigte Power-To-X-Branche nimmt gerade erst an Fahrt auf und hält wenig von solchen Aussagen. „Wo der Einsatz von grünem Wasserstoff sinnvoll ist, kann nicht pauschal entschieden werden. Es ist eine Frage der Effizienz, Verfügbarkeit und Flexibilität im Vergleich zu anderen nachhaltigen Technologien“, ist Nils Aldag, Mitgründer des Dresdner Power-To-X Start-ups Sunfire, überzeugt. Eine Einschränkung der Anwendungsmöglichkeiten lehne er ab, da grüner Wasserstoff vielfältig einsetzbar und gerade deshalb so wichtig sei.

Grüner Wasserstoff entsteht mit dem altbekannten Verfahren der Elektrolyse und erzeugt durch Wasser und – in diesem Fall erneuerbaren Strom – klimaneutralen Wasserstoff. In Strom umgewandelt kann er bei Bedarf wieder ins Netz eingespeist werden und so als saisonaler Speicher für Wind- und Solarenergie dienen. Aber auch synthetische Kraftstoffe, E-Fuels oder Methan-Ersatz zum Heizen lassen sich aus Wasserstoff herstellen.

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Es entstehen klimaneutrale Brennstoffe, die leicht speicherbar sind – allerdings mit deutlichen Effizienzverlusten. Am effektivsten ist das Element im direkten Einsatz, zum Beispiel als Rohstoff in der Chemie. Den großen Durchbruch hat die Technologie bislang zwar nicht geschafft. Aber mittlerweile wagen sich immer mehr Großkonzerne in die Power-To-X-Welt.

Erst vor wenigen Wochen eröffnete der Münchner Industriekonzern Siemens einen brandneuen Forschungscampus in Görlitz. Schwerpunkt: Wasserstoff. Gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft will der Weltkonzern ein Labor für Wasserstoffforschung errichten und Deutschland zu einem führenden Standort der Zukunftstechnologie machen. Und auch der Stahlkonzern Thyssen-Krupp will demnächst nicht mehr Kohlestaub in den Hochofen pumpen, sondern grünen Wasserstoff.

In Österreich haben sich mit dem Energieversorger-Verbund, dem Öl- und Gaskonzern OMV und dem Stahlproduzenten Voestalpine gleich drei der größten Unternehmen des Landes zusammengetan, um die Alpenrepublik zum Wasserstoff-Pionier Europas zu machen.

„In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Thema oft übersehen, jetzt wird der Politik und auch der Industrie langsam bewusst, dass wir nicht nur Strom, sondern auch Power-To-X für eine erfolgreiche Energiewende brauchen“, ist Aldag überzeugt, der neben seinem Führungsposten bei Sunfire gleichzeitig die Interessen der europäischen Wasserstoff-Industrie in Brüssel vertritt.

Power-To-Gas als Stromersatz beim Heizen?

Dass es Power-To-X zum Gelingen der Energiewende braucht, steht auch für die BCG-Experten außer Frage. Deswegen sei grüner Wasserstoff aber nicht in allen Sektoren die bessere Option. „100 Prozent Erneuerbare gehen nur mit Power to Gas als saisonalem Speicher. Für einen breiten Einsatz in der Sektorkopplung macht die Technologie aber aufgrund der hohen Stromverluste keinen Sinn“, meint Klose.

Beispiel Heizen: Eine Wärmepumpe brauche für dieselbe Wärmemenge nicht mal ein Sechstel des Stroms wie eine Gasheizung mit Power to Gas. „Wenn wir unseren gesamten Wärmeverbrauch damit abdecken würden, fräße das ein Mehrfaches des heutigen Gesamtstromverbrauchs in Deutschland.“ 

Für Pkw sehen die Studienautoren ebenfalls den batterieelektrischen Antrieb vorne, in der Industrie sei grüner Wasserstoff hingegen alternativlos. „Wasserstoff kommt heute bereits in bestehenden Anlagen zum Einsatz und es gibt kaum günstige Alternativen zur Dekarbonisierung. Hier kann sich grüner Wasserstoff in absehbarer Zeit rechnen“, erklärt Klose.

Ein aktuelles Beispiel ist der britisch-niederländische Ölriese Shell. Erst im Juni legte der Konzern in seiner Raffinerie in Wesseling den Grundstein für die größte PEM-Wasserstoff-Elektrolyse-Anlage der Welt. „Raffinerien sind schon heute mit die größten Wasserstoffproduzenten und -konsumenten. Bislang wird Wasserstoff mittels Erdgas-Dampfreformierung hergestellt. Unser Ziel ist es, Wasserstoff künftig mit Hilfe von Strom aus erneuerbaren Energien herzustellen“, sagt Jörg Adolf, Chefvolkswirt von Shell Deutschland, dem Handelsblatt.

Die Elektrolyse-Anlage mit einer Leistung von zehn Megawatt, die schon 2020 in Betrieb gehen soll, sei jedoch nur der Anfang. Für den Raum Köln erwartet der Ölkonzern den Aufbau einer ganzen Wasserstoff-Modellregion, rund um Tankstellen, Auto- und Buseinsatz, um so das Potenzial von klimaneutralem Wasserstoff in der Energiewende zu zeigen.

Weil solche Raffinerien, Stahlhütten und Chemieparks den grünen Wasserstoff vor Ort erzeugen und auch direkt selbst verbrauchen könnten, sei der Einsatz dort auch sinnvoll, argumentieren die Autoren der BCG-Studie. „Wasserstoff über lange Distanzen zu importieren ist verlustreich und kostenintensiv. Dafür eignen sich synthetische Kraftstoffe sehr viel eher. E-Fuels sind Stand heute die einzige realistische Technologie, um Sektoren wie die Schifffahrt oder auch den Flugverkehr emissionsfrei zu bekommen“, erklärt Klose.

Ob grüner Wasserstoff jedoch für alles die beste Lösung ist, da ist sich auch Christoph Jugel noch nicht sicher. „Vor allem in den Bereichen Speicherung und Transport steht Wasserstoff vor Herausforderungen“, sagt der Leiter für den Bereich Energiesysteme bei der deutschen Energieagentur (dena). Wichtig sei deswegen, den regulatorischen Rahmen nun so zu gestalten, „dass Wasserstoff-Anwendungen dort entstehen, wo es sich zur Emissionsminderung und aus ökonomischen Gründen am meisten lohnt“.

Den Grundstein dafür hat die Bundesregierung bereits gelegt. Das Wirtschaftsministerium unter Minister Peter Altmaier (CDU) arbeitet bereits an einem Konzept für den Einsatz von grünem Wasserstoff in Deutschland. „Gasförmige Energieträger sind fester und langfristiger Bestandteil der Energiewende“, heißt es in einem internen Ministeriumspapier. Strombasierte Gase wie Wasserstoff würden Erdgas „kontinuierlich substituieren, insbesondere nach 2030“. Erste offizielle Eckpunkte will Altmaier im Oktober vorlegen.

Die industriepolitischen Effekte eines Markthochlaufs jedenfalls wären enorm. Allein für Deutschland errechnet eine Studie von Frontier Economics und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln Wertschöpfungseffekte in Höhe von 27 Milliarden Euro sowie die Chance zur Schaffung von 350.000 Arbeitsplätzen. „Die Konzerne, die beim Thema Power-To-X führend sind, sitzen in Deutschland und Europa. Das ist wirtschaftlich eine große Chance“, findet auch Sunfire-Co-Chef Aldag.

Dafür müsse die Politik aber nun Bereiche unterstützen, „in denen sie wirklich etwas bewirken kann, anstatt die Subventionen opportunistisch über den ganzen Markt zu verteilen“, schreiben die Autoren der Studie. Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass es allein in Europa im vergangenen Jahr 150 öffentlich geförderte Pilotprojekte gab, weltweit fließen jedes Jahr 700 Millionen Dollar in die Wasserstoffforschung.

Damit die Zukunftstechnologie überhaupt vom Hype zur Realität wird, muss sie jetzt erstmal in die nächste Phase – egal in welchem Bereich.

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