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18.07.2022

16:06

Energiekrise

Gasturbine für Nord Stream 1 soll unterwegs sein – Kritik in Kanada

Von: Gerd Braune, Kathrin Witsch

Seit mehreren Wochen gibt es Streit über die Auslieferung einer Gasturbine für Nord Stream 1. Nun soll die Anlage auf dem Weg zurück nach Russland sein.

Gazprom wartet auf eine Gasturbine für Nord Steam 1 dpa

Gazprom

Höhere Gewalt?

Ottawa, Düsseldorf Laut Branchenkreisen ist die reparierte Gasturbine für die Pipeline Nord Stream 1 von Kanada nach Deutschland geliefert worden. Sollte es keine Probleme mit der Logistik oder dem Zoll geben, werde es weitere fünf bis sieben Tage dauern, bis die von Siemens Energy hergestellte Anlage in Russland eintreffe.

Der Berliner Energietechnikkonzern Siemens Energy wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern. Auch das Bundeswirtschaftsministerium wollte die Meldung nicht kommentieren. Wo sich die Turbine jetzt befindet und wann sie beim Eigentümer Gazprom ankommt, berühre auch Sicherheitsfragen, begründete das Ministerium sein Schweigen. 

Selbst wenn die Turbine in fünf Tagen in Russland wäre, erscheint ein Einbau noch während des offiziellen Wartungsintervalls für Nord Stream 1 mehr als fraglich. Am vergangenen Montag starteten die jährlichen Reparaturarbeiten an der Pipeline, sie sollen bis zum 21. Juli dauern. Seitdem fließt kein Gas mehr durch die Ostseeverbindung.

Gasturbine für Nord Stream 1: Bundregierung setzte sich für Lieferung an Gazprom ein

Die von Siemens gewartete Turbine ist nach Angaben des Wirtschaftsministeriums aber ohnehin lediglich eine Ersatzturbine. „Es handelt sich um eine Ersatzturbine für den Einsatz im September“, sagte eine Sprecherin des Ministeriums am Montag in Berlin. 

Im Juni hatte das russische Staatsunternehmen Gazprom die Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 bereits massiv gedrosselt – und das vor allem mit dem Fehlen besagter Turbine von Siemens Energy begründet. Am Montag erklärte Gazprom gegenüber mehreren Großkunden aus Europa in einem Schreiben die Lieferausfälle nach Europa seien die Folge höherer Gewalt („Force Majeure“).

Gazprom könne aufgrund besonderer Umstände seinen Liefer-Verpflichtungen seit dem 14. Juni nicht mehr nachkommen, heißt es laut Uniper in dem Schreiben. Kritiker werfen dem Kreml mit Blick auf die eingeschränkten Gaslieferungen dagegen politisches Kalkül vor.

Grafik

Trotzdem setzte die Bundesregierung sich für eine Auslieferung ein, um Russland keinen Vorwand für eine weitere Reduzierung der vereinbarten Gaslieferungen zu geben. 

Die Gasturbine wurde in Kanada gewartet, konnte wegen Sanktionen aber zunächst nicht mehr zurück nach Russland geliefert werden. Wochenlang strömten nur noch etwa 40 Prozent der sonst üblichen Menge Erdgas durch die mehr als 1200 Kilometer lange Pipeline von Russland nach Mecklenburg-Vorpommern.

Kanadisches Parlament untersucht Lieferung

Vor allem in Kanada hatte es Vorbehalte gegen die Auslieferung der Gasturbine gegeben. Die gegen Russland verhängten Sanktionen hatten den Rücktransport eigentlich blockiert.

Auf Druck der deutschen Bundesregierung hatte der liberale kanadische Premierminister Justin Trudeau der Auslieferung der Gasturbine erst vor wenigen Tagen trotzdem zugestimmt. Statt direkt nach Russland, wird sie zunächst nach Deutschland gebracht. Eine direkte Lieferung an Gazprom hätte gegen kanadische Sanktionen gegen Russland verstoßen.

Das sorgt nun vor allem in Kanada für Protest. Ein außenpolitischer Ausschuss soll sich in den nächsten Tagen mit der umstrittenen Entscheidung befassen. Auch die Botschafterinnen der Ukraine, der Europäischen Union und Deutschlands sollen vor dem Ausschuss aussagen. 

Anfang vergangener Woche hatte die kanadische Regierung für die Lieferung von bis zu sechs gewarteten Gasturbinen eine zweijährige Ausnahmegenehmigung erteilt. Zuvor hatte sich die deutsche Bundesregierung in Ottawa für die Zulassung des Turbinenexports eingesetzt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die „Entscheidung unserer kanadischen Freunde und Verbündeten“ begrüßt. Scholz wird in der zweiten Augusthälfte zu Gesprächen mit Trudeau nach Kanada reisen.

In dem nordamerikanischen Land ist die Entscheidung, die Auslieferung der Gasturbinen zu gestatten, äußerst umstritten. Kanada hat 1,4 Millionen Staatsangehörige mit ukrainischen Wurzeln und damit nach Russland weltweit die zweitstärkste ukrainische Diaspora.

Justin Trudeau REUTERS

Justin Trudeau

Der kanadische Premier steht wegen der Entscheidung, die Gasturbine nach Deutschland zu liefern, unter Druck. 

In etlichen Wahlkreisen kann die Stimme der politisch sehr engagierten ukrainisch-stämmigen Kanadierinnen und Kanadier wahlentscheidend sein. Der Ukrainisch-Kanadische Kongress UCC rief für Sonntagnachmittag zu der Protestdemonstration in Ottawa auf.

Die kanadische Regierung habe sich der russischen Erpressung gebeugt und damit einen „gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, der zu einer Schwächung der Sanktionen“ gegen Russland führen werde, erklärte der UCC. Er forderte die Regierung Kanadas auf, die Ausnahmegenehmigung aufzuheben.

Kanada hat seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine harte Haltung gegenüber Russland eingenommen. Die stellvertretende Regierungschefin und Finanzministerin Chrystia Freeland, die selbst ukrainische Wurzeln hat, fand scharfe Worte bei der Verurteilung des Vorgehens Russlands gegen die Ukraine. Nun unterstützt sie die Entscheidung, die Gasturbinen auszuliefern.

In Kanada leben hunderttausende Menschen mit Wurzeln in der Ukraine. Reuters

Demonstration zur Unterstützung der Ukraine in Toronto im April

In Kanada leben hunderttausende Menschen mit Wurzeln in der Ukraine.

Nach einem Treffen der G20-Finanzminister in Bali sagte sie zwar, dass es eine schwierige Entscheidung für Kanada gewesen sei. Aber man könne nicht alleine die Ukraine unterstützen. Dafür sei die Solidarität der anderen G7-Partner notwendig. „Kanada hörte sehr deutlich von unseren deutschen Alliierten, dass Deutschlands Fähigkeit, seine Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten, in Gefahr sein könnte“, so Freeland.

Kanadischer Premier Trudeau verteidigt Turbinen-Lieferung nach Deutschland

Auch Trudeau hatte in den vergangenen Tagen argumentiert, die Lieferung der Gasturbinen sei eine Maßnahme die sicherstellen solle, dass die Bevölkerung in Deutschland und anderen europäischen Ländern, „weiterhin ihre Regierungen dabei unterstützt, viele Milliarden Dollar an militärischer, finanzieller und humanitärer Hilfe für das ukrainische Volk bereitzustellen, während dieses seinen Kampf gegen Tyrannei und Unterdrückung führt“. 

Trudeau hat für seinen Kurs in der liberalen Partei bisher keinen offenen Widerspruch erfahren. Aber seine Regierung ist nur eine Minderheitsregierung und im Parlament auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen. Die Liberalen haben mit der sozialdemokratischen NDP im Frühjahr ein Abkommen geschlossen, das ihnen in wichtigen Fragen wie Budgetentscheidungen eine Mehrheit sichert.

Aus der sozialdemokratischen Partei ist nun aber in dieser wichtigen außenpolitischen Frage deutliche Kritik zu vernehmen. Mit der Entscheidung seien Sanktionen im Grunde genommen bedeutungslos, sagte ihre außenpolitische Sprecherin Heather McPherson. 

Die konservative Opposition spricht von einem „Schlag ins Gesicht des ukrainischen Volks“. Nun wird sich das Parlamentskomitee für Außenpolitik mit der Entscheidung befassen. In dieser Woche sollen Außenministerin Melanie Joly und Rohstoffminister Jonathan Wilkinson zu den Hintergründen befragt werden. Der Ausschuss plant auch Deutschlands Botschafterin Sabine Sparwasser, EU-Botschafterin Melita Gabric und die ukrainische Botschafterin Yulia Kovaliv zu laden.

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