Zapfhahn einer Wasserstoff-Tanksäule
Wasserstoff lässt sich recht einfach aus Wasser erzeugen und wie Erdgas in Tanks speichern.
Bild: dpa
Grüner Wasserstoff gilt als wichtiger Baustein für die Energiewende. In Hamburg soll eine 100-Megawatt-Anlage entstehen. Welches Potenzial hat der vermeintliche Heilsbringer wirklich?
Hamburg Tim Brandt zeigt mit dem Finger auf ein Windrad, das ein paar Hundert Meter über ihm in die Luft ragt. „Genau da ist das Problem“, sagt der 28-Jährige kopfschüttelnd, den Mund zu einem sarkastischen Lächeln verzogen, während sich die Augenbrauen über die Ränder seiner schwarzen Hornbrille hinweg nach oben ziehen.
Hinter ihm stehen vier moderne Hightech-Mühlen nebeneinander, nur bei zweien drehen sich die Flügel. Die anderen beiden stehen still. Dabei ist es ein windiger Tag im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel.
Der junge Betriebswirtschaftler ist in dem Küstenort geboren und aufgewachsen. Windräder gehören hier mittlerweile genauso selbstverständlich zum Landschaftsbild wie die kilometerlange Industriekulisse von Unternehmen wie Remondis, Total oder Yara, die sich an den Ufern von Elbe und Nord-Ostsee-Kanal entlangzieht.
„An Tagen wie heute produzieren die Windräder mehr Strom als verbraucht wird. Damit das Netz nicht überlastet, werden sie abgeschaltet“, erklärt Brandt. Dabei stehe die perfekte Lösung für den ungenutzten Ökostrom nur ein paar Meter weiter.
Hier in Brunsbüttel, mitten im größten Industriegebiet Norddeutschlands und direkt vor den Pforten des Chemieriesen Covestro, markieren zwei blau gestreifte unscheinbare Container den Weg in die Zukunft. Hinter ihren grauen Türen verbirgt sich eine der wenigen Anlagen in Deutschland, die aus Ökostrom Wasserstoff produzieren.
Wasserstoffelektrolyse in Brunsbüttel
Die Anlage produziert aus Ökostrom Wasserstoff.
Bild: Kathrin Witsch
Power-to-X (PtX) heißt das Verfahren und Wind2Gas die Firma, die Brandt mit seinen Partnern vor vier Jahren gegründet hat. „So können wir überschüssigen Strom aus Erneuerbaren nutzen, auch wenn er gerade nicht im Netz gebraucht wird“, sagt der Gründer. Eine grüne Zukunft ganz ohne Wasserstoff sei nicht möglich, davon ist Brandt überzeugt.
Power-to-X soll das Speicherproblem lösen, das fast alle alternativen Energiequellen seit jeher plagt: Strom entsteht nur, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Und er lässt sich nur schwer aufbewahren. Mal gibt es zu viel Ökostrom, mal zu wenig.
Wasserstoff hingegen lässt sich durch das Verfahren der PEM-Elektrolyse ganz einfach aus Wasser erzeugen und wie Erdgas in Tanks speichern. Beim Verbrennen entstehen dann wieder Wasser – und Energie. Das klingt herrlich simpel und lässt sich mit Mittelstufenkenntnissen der Chemie problemlos nachvollziehen. Vielleicht auch deshalb wird Wasserstoff oft als Heilsbringer der Energiewende gefeiert. Aber ist er das wirklich?
Mehr als 100 Jahre nach Jules Vernes Werk „Die geheimnisvolle Insel“ scheint seine Romanfigur, der Ingenieur Cyrus Smith, doch recht zu behalten. Der prophezeite schon damals: „Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist.“ Immer wieder stand Wasserstoff als Energieträger kurz vor dem Durchbruch, und immer wieder ist das allererste Element im Periodensystem in der Versenkung verschwunden. Jetzt ist es wieder da, heißt Power-to-X und wird so schnell wohl nicht wieder in Vergessenheit geraten.
„Ohne Power-to-X ist es ausgeschlossen, die Klimaziele für Deutschland und Europa zu erreichen. Strom allein wird nicht ausreichen“, sagt Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energieagentur (dena). Da, wo überschüssiger Strom wie in Brunsbüttel ansonsten im wahrsten Sinne des Wortes verpuffen würde, könnte Wasserstoff als eine Art Langzeit-Zwischenspeicher fungieren. Und nicht nur das.
Auch synthetische Kraftstoffe, sogenannte E-Fuels, lassen sich aus Wasserstoff herstellen, ebenso wie Methanersatz für die heimische Gasheizung. Besonders begehrt ist das talentierte Molekül in der Industrie, die ihren Wasserstoff heute noch meist aus Erdgas herstellt.
Der steigende Druck zur Dekarbonisierung setzt jetzt vor allem Stahlkonzerne unter Zugzwang, die bislang wahre CO2-Schleudern sind. Bei der konventionellen Produktion von einer Tonne rohem Stahl entstehen immerhin 1,3 Tonnen CO2.
Der Stahlkonzern Thyssen-Krupp will seine Hochöfen schon in zehn Jahren nicht mehr mit Kohle anfeuern, sondern mit klimaneutralem Wasserstoff, genauso wie die Konkurrenten Salzgitter oder Voestalpine. Auch Weltmarktführer Arcelor-Mittal investiert 65 Millionen Euro in den Umstieg von Erdgas auf Ökostrom.
„Die Ankündigungen in der Stahlindustrie sind ein Momentum, wie wir es bisher noch nicht gesehen haben“, sagt dena-Chef Kuhlmann. Und auch die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck an einem Konzept, um Power-to-X-Technologien zum Durchbruch zu verhelfen. Länder wie Japan, Österreich und nun auch die Niederlande stellen sie sogar in den Fokus ihrer Energiepolitik.
Bei so viel Begeisterung ist die Übertreibung meist nicht weit. Schon warnen Kritiker vor „einem gefährlichen Hype“. So nennen es die Experten des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group (BCG) in einer Analyse. Das Potenzial der Technologie sei real, doch laufe man gerade Gefahr, sich auf Wasserstoff als „Alleskönner“ zu verlassen. Dabei sei Wasserstoff nicht für jeden Bereich die beste Alternative.
Ein Kernproblem: die hohen Produktionskosten. Ein Kilogramm grüner Wasserstoff kostet heute rund zehn US-Dollar. Zum Vergleich: Grauer Wasserstoff, etwa mit Erdgas erzeugt, kostet im Schnitt ein bis zwei US-Dollar pro Kilogramm. Hinzu kommt, dass es die Technologie bis heute noch nicht über die Pilotphase hinaus geschafft hat.
Genau das will Michael Westhagemann ändern. Seit einem Jahr ist der langjährige Siemens-Manager Hamburgs Senator für Wirtschaft, Verkehr und Innovation. Und er hat eine Vision. Kaum ein anderer deutscher Politiker kämpft im Moment wohl entschlossener für die Power-to-X-Technologie als der 62-Jährige.
Im September sorgte Westhagemann für landesweite Schlagzeilen, als er verkündete, die weltweit größte Elektrolyseanlage für grünen Wasserstoff im Hamburger Hafen bauen zu wollen. 100 Megawatt (MW) groß soll sie werden. Bislang leisten Power-to-X-Anlagen noch nicht mal ein Zehntel davon, die blauen Container von Tim Brandt in Brunsbüttel schaffen 2,4 MW. Zum Vergleich: Das 2007 stillgelegte Kernkraftwerk im gleichen Ort brachte es auf 771 MW.
„Wasserstoff muss der Hebel für die Energiewende sein. Und jetzt, wo wir gesetzliche Klimaziele haben, kommt eine Verbindlichkeit in das Thema, an die sich alle halten müssen“, sagt Westhagemann im Gespräch mit dem Handelsblatt. Das Interesse aus der Industrie zumindest sei riesig, „die 100 MW sind schon ausgebucht“. Ein passender Standort sei auch schon gefunden, die Gespräche zur Finanzierung laufen. Einen dreistelligen Millionenbetrag wird das Projekt kosten, schätzt der Senator. Dabei setzt er vor allem auf Hilfe aus Berlin und Brüssel. 2025 soll die Anlage stehen. Aber Westhagemann hat noch viel größere Pläne.
Gemeinsam mit Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein will er eine Art norddeutsche Wasserstoffwirtschaft aufbauen. Den passenden Fahrplan dafür haben die fünf Bundesländer Anfang November vorgestellt. Fünf Gigawatt Elektrolyseleistung sollen bis zum Jahr 2030 im Norden entstehen. Bis zum Jahr 2035 soll so eine „nahezu vollständige Versorgung“ für die Industrie und den Verkehrssektor entstehen.
Der nötige grüne Strom soll aus Windanlagen an Land und auf See kommen, von denen es in den fünf Ländern weit mehr gibt als im Rest der Republik zusammen. „Wir führen aber auch schon Gespräche mit anderen Ländern für mögliche Kooperationen“, sagt Westhagemann. Mit Finnland, Dänemark und Norwegen zum Beispiel.
Doch mitten in die Wasserstoffeuphorie mischen sich Nachrichten, dass das Wundermolekül die hochfliegenden Erwartungen an anderer Stelle doch nicht so recht erfüllen kann. Erst im Februar musterte der Hamburger Verkehrsbetrieb Hochbahn vier Brennstoffzellenbusse aus.
Die Begründung: Es gebe schlicht nicht genügend verfügbare Fahrzeuge auf dem Markt. „Die sukzessive Umrüstung einer Flotte von rund 1000 Bussen auf emissionsfreie Antriebe ist mit Prototypen nicht realisierbar“, sagt ein Sprecher des Unternehmens dem Handelsblatt. Keiner der Hersteller habe zusagen wollen, dass er die Brennstoffzellenbusse serienmäßig liefern könne. Die Flotte der Hochbahn wird deswegen jetzt erst einmal mit batteriebetriebenen Fahrzeugen ausgestattet.
Und auch im Pkw-Bereich zieht die Batterie an der Brennstoffzelle vorbei. An einer der ältesten Wasserstofftankstellen Deutschlands, gleich vor dem Backsteinpanorama der Hamburger Speicherstadt, herrscht zumeist Leere. Kein Wunder, in ganz Deutschland fahren bislang lediglich knapp 400 Autos mit Wasserstoff im Tank durch die Straßen.
„Bei Pkws ist sicherlich der batterieelektrische Antrieb das Mittel der Wahl. Die Brennstoffzelle wird vor allem im Schwerlastverkehr, bei Schiffen und Zügen eine große Rolle spielen“, glaubt Florian Bergen. Er verantwortet alle Power-to-X-Projekte für den Anlagenbauer Siemens. Der Münchener Weltkonzern baut schon lange Maschinen zur Wasserstofferzeugung, Elektrolyseure genannt. Zweifel am kommenden Durchbruch der Zukunftstechnologie hat Bergen nicht.
Er rechnet vor: Aktuell gebe es weltweit Elektrolyseure mit einer Leistung von 500 Megawatt. Das hieße, bereits ein 100 MW-Projekt wie in Hamburg würde die globalen Produktionskapazitäten um ein Fünftel vergrößern. „Wir erwarten in Deutschland schon die ersten drei bis vier 100-Megawatt-Anlagen oder mehr. Daran sieht man, wie schnell dieser Markt wachsen wird“, erklärt Bergen.
Hamburger Speicherstadt
Hier steht eine der ältesten Wasserstofftankstellen Deutschlands.
Bild: Kathrin Witsch
Je größer die Elektrolyseure, desto günstiger der Wasserstoff. Durch Skaleneffekte könnte der Kilopreis von heute zehn US-Dollar auf bis zu zwei Dollar fallen, ist man bei Siemens überzeugt. Den größten Mehrwert von grünem Wasserstoff sehen Bergen und andere Experten nicht in Brennstoffzellenautos oder Gasheizungen, sondern in der Industrie.
Auf der anderen Seite der Speicherstadt, einmal quer über die Hamburger Elbbrücken, steht bereits eine PEM-Elektrolyse von Siemens. Mit fünf Megawatt ist sie derzeit eine der größten Anlagen der Welt. Sie befindet sich auf dem Gelände der H&R Ölwerke Schindler, eines Hamburger Familienbetriebs, der sein Geld vor allem mit der Verarbeitung und Verfeinerung von Rohöl macht. „In Raffinerien wird Wasserstoff in der Regel aus der Aufspaltung von Erdgas gewonnen“, erklärt Frederik Jahnke, Leiter der Verfahrenstechnik bei H&R.
So hat es auch Schindler lange gemacht. 2017 habe man dann umgestellt, erklärt der Ingenieur, während er an dem typischen Rohrlabyrinth vorbei auf eine rechteckige Halle zugeht, in der sich die Elektrolyseanlage befindet. „Als energieintensiver Betrieb profitieren wir mit reduzierten EEG-Umlageanteilen und Netzentgelten von den geltenden gesetzlichen Bestimmungen“, sagt Jahnke. Das Molekül nun aus Strom herzustellen rentiert sich für das Unternehmen, dass sein Erdgas vorher am Markt einkaufen musste. Entscheidend sei jedoch die Verwertung des gewonnenen Wasserstoffs in den eigenen Produktionsprozessen.
Bei Ölriesen wie BP, Total oder Shell sieht die Rechnung mit dem Wasserstoff anders aus. Das im eigenen Konzern gewonnene Erdgas ist bislang deutlich billiger als der Strom für die Elektrolyse. „Wir haben in Deutschland sehr hohe Stromkosten. Das muss sich ändern, wenn Wasserstoff wirklich ein Teil der Energiewende werden soll“, fordert deswegen Jens Müller-Belau, der bei Shell Deutschland den klangvollen Titel eines Energy-Transition-Manager trägt.
Dass grüner Wasserstoff ein Teil der Energiewende sein muss, steht auch für ihn außer Frage. Erst im Sommer hat Shell den Grundstein für die bis dato weltgrößte Elektrolyseanlage in seiner Raffinerie in Köln gelegt. Das ist allerdings bislang auch das einzige Power-to-X-Projekt des Milliardenkonzerns – weltweit. Weitere seien erst einmal nicht geplant.
Dabei wären mindestens 3000 MW oder drei Gigawatt (GW) Elektrolysekapazität erforderlich, um allein die Raffinerien in Deutschland mit grünem Wasserstoff zu versorgen. Eine Studie des Marktforschungsunternehmens Energy Brainpool im Auftrag von Greenpeace rechnet vor, dass es insgesamt 107 GW an Elektrolyseleistung bis 2035 bräuchte, um alle Bereiche in Deutschland mit ausreichend grünem Wasserstoff zu versorgen. So viel Ökostrom kann Deutschland allein nie produzieren.
Knapp 80 Prozent des grünen Wasserstoffs müssten importiert werden, schlussfolgern die Analysten. Auch Siemens-Manager Bergen ist überzeugt: „Wir werden in Deutschland und Europa bei Weitem nicht genügend erneuerbare Ressourcen erzeugen, um den Bedarf an grünem Wasserstoff zu decken. Aber das ist ja nicht schlimm, wir importieren ja heute auch schon im großen Maßstab Energie.“
Kein Gesprächspartner, keine Studie bestreitet: Mit Ökostrom erzeugter grüner Wasserstoff ist zwar nicht die Lösung aller Probleme, aber ein wichtiger Baustein zum Gelingen der Energiewende. Was es jetzt brauche, betont dena-Chef Kuhlmann, seien die richtigen Rahmenbedingungen. „Im Moment sind die Kosten hoch, und der Wert der CO2-Vermeidung ist niedrig. Das muss sich ändern. Wenn der Klimaschutz einen Wert und damit einen Markt hat, dann wird auch in Erzeugungsanlagen investiert. Und dann gehen die Kosten runter“, sagt der studierte Physiker.
Die Masse macht’s: Nur mit großen Produktionsmengen und den richtigen Rahmenbedingungen wird Power-to-X rentabel. Diese Erfahrung macht gerade auch Jungunternehmer Tim Brandt aus Brunsbüttel. Das PtX-Projekt in seiner Heimat wird noch bis 2020 staatlich gefördert. Danach sieht es schwierig aus.
Tim Brandt
„Ich sehe in der Politik nur begrenzten Veränderungswillen.“
Bild: Kathrin Witsch
„Wir verbrennen gerade Geld“, sagt Brandt. Anders als die Elektrolyse bei den Ölwerken Schindler muss Wind2Gas die volle EEG-Umlage plus Netzentgelte zahlen, auch wenn sie den erzeugten Strom aus den eigenen fünf Windrädern nur zwischenspeichern. Der Strom ist für ihn also deutlich teurer als für die Schindler-Raffinerie im eine Stunde entfernten Hamburg. Ob sich das mit der angekündigten Wasserstoffstrategie der Bundesregierung ändert, da ist Brandt skeptisch. „Ich sehe in der Politik nur begrenzten Veränderungswillen. Dabei muss das ganze System neu geschrieben werden“, kritisiert er.
Besonders frustrierend: Die potenziellen Kunden sind nur ein paar Meter entfernt. Und bei denen sei das Interesse groß. Zum Beispiel beim Covestro-Werk Brunsbüttel, wo Wasserstoff für die Herstellung von Ammoniak und Methanol gebraucht wird. Oder auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite beim Düngemittelhersteller Yara, einem der größten Verbraucher von Wasserstoff weltweit.
Aber für die Unternehmen lohnt sich der grüne Ersatzstoff noch nicht – er ist zu teuer. Deswegen müsste Brandt die Anlage eigentlich nächstes Jahr dichtmachen, „so wie es jetzt ist, können wir uns das nicht leisten“, sagt er mit einem Schulterzucken. Weitermachen will er trotzdem.
Mehr: Ob Schifffahrt, Stahlproduktion oder Raffinerien – Wasserstoff kommt in vielen Branchen zum Einsatz. Lesen Sie in unserem Dossier, wie der Energieträger unsere Welt verändert.
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