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29.06.2021

04:00

Energiewirtschaft

Der Strompreis-Schock: Industrie zahlt so viel wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr

Von: Jürgen Flauger, Silke Kersting

Die Kosten für Elektrizität klettern immer höher – und bringen vor allem Mittelständler in die Bredouille. Energiepolitiker schlagen Alarm.

Der Großhandelspreis ist seit März 2020 um 100 Prozent gestiegen – von 35 auf 70 Euro pro Megawattstunde für Lieferungen im Jahr 2021.

Strompreis-Schock

Der Großhandelspreis ist seit März 2020 um 100 Prozent gestiegen – von 35 auf 70 Euro pro Megawattstunde für Lieferungen im Jahr 2021.

Düsseldorf, Berlin Die Zuversicht der deutschen Wirtschaft nach eineinhalb Jahren Pandemie wird von einer großen Sorge getrübt: Der Strompreis steigt und steigt. Am Terminmarkt der Energiebörse EEX kostet eine Megawattstunde (MWh) Strom, die im kommenden Jahr geliefert werden soll, knapp 70 Euro.

So hoch war der Großhandelspreis, der Grundlage für viele Verträge der Industriekunden ist, seit zwölf Jahren nicht mehr. Im März 2020, zu Beginn der Pandemie, kostete eine MWh noch 35 Euro. Getrieben wird der Preis vom ebenfalls steilen Anstieg des CO2-Preises. Eine Trendwende ist deshalb nicht in Sicht.

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„Für viele Unternehmen, vor allem Mittelständler, ist das ein Schock“, sagt Wolfgang Hahn, Geschäftsführer der ECG Energie Consulting GmbH, die Unternehmen Energieverträge vermittelt. „Die Strompreise werden für viele Unternehmen zunehmend zur Belastung.“

So wie für Oberflächenveredler Coatinc mit Sitz in Bochum. Das Unternehmen, das beim Feuerverzinken einen hohen Energieverbrauch hat, muss aktuell einen neuen Stromvertrag für seine deutschen Werke schließen, weil der alte Ende des Jahres ausläuft. Gemessen an den aktuellen Notierungen würden sich die jährlichen Stromkosten von 480.000 auf 840.000 Euro erhöhen.

Schon fordern Energiepolitiker Entlastung für die Industrie. „Stromkosten sind ein wichtiger Standortfaktor“, sagt FDP-Fraktionsvize Michael Theurer – und forderte, bei Abgaben und Umlagen gegenzusteuern: „Über die Hälfte der Strompreise machen staatliche Kostenbestandteile aus.“

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Ingo Mülder, der den Einkauf bei Coatinc leitet, stöhnt: „Wir müssen fast mit einer Verdoppelung zurechtkommen.“ Coatinc wurde 1502 gegründet und ist nach einer Liste der Stiftung Familienunternehmen damit Deutschlands ältestes Unternehmen in Familienhand. Die glorreiche Vergangenheit wird allerdings von höchst gegenwärtigen Sorgen überschattet.

Das Unternehmen gehört zu den energieintensiven Branchen, bei denen der Einsatz von Strom und Gas einen besonders hohen Anteil der Kosten ausmacht. Beim Feuerverzinken muss permanent flüssiges Zink in den Verzinkungskesseln bei 450 Grad gehalten werden – und zwar 24 Stunden am Tag.

Pro Jahr verzinkt das Traditionsunternehmen, das an 18 Standorten in Europa rund 1400 Mitarbeiter beschäftigt, 450.000 Tonnen Stahl und braucht dafür allein in Deutschland 60.000 Megawattstunden Gas und 12.000 MWh Strom. Das entspricht etwa dem Stromverbrauch von 4000 Familien.

Bisher bezahlt Coatinc für den Strom in Deutschland rund 40 Euro je MWh. Jetzt muss sich das Unternehmen auf 70 Euro einstellen. Und das sind nur die Beschaffungskosten. Zuzüglich Steuern, Gebühren und Umlagen, von denen das Unternehmen nicht befreit ist, dürften sich die Stromkosten auf 200 Euro je MWh summieren.

Auch der Bundesverband der Energiewirtschaft (BDEW) rechnet nach einer aktuellen Analyse in diesem Jahr im Schnitt mit einem Industriestrompreis inklusive aller Umlagen von 191 Euro je MWh. Das entspricht einem Anstieg von gut 13 Euro innerhalb eines Jahres. Für große Verbraucher erhöht sich die Stromrechnung damit schnell um mehrere Hunderttausend Euro.

Die Sonne geht hinter dem Kohlekraftwerk Mehrum und Hochspannungsleitungen im Landkreis Peine auf. Immer mehr Kohlekraftwerke gehen vom Netz. Das verknappt das Angebot und treibt den Strompreis. dpa

Kohlekraftwerk und Stromleitungen

Die Sonne geht hinter dem Kohlekraftwerk Mehrum und Hochspannungsleitungen im Landkreis Peine auf. Immer mehr Kohlekraftwerke gehen vom Netz. Das verknappt das Angebot und treibt den Strompreis.

Der Strompreis, der vor einem guten Jahr noch gesunken sei, erhole sich „mit einer Dynamik, die keiner erwartet“ habe, sagt Mülder: „Energieintensive Unternehmen wie wir müssen jetzt schauen, wie sie damit zurechtkommen.“

Gundolf Schweppe, der beim Stromproduzenten Uniper den Bereich Energy Sales leitet, spricht von einem „dramatischen Anstieg“ der Strompreise und bestätigt: „Vor allem unsere Industriekunden, die ihren Strombedarf noch nicht eingedeckt haben und die Stromkosten nicht an ihre Kunden weitergeben können, sind erheblich von dem Preisanstieg betroffen.“ Bei diesen spüre Uniper derzeit „eine große Unsicherheit“. Viele dieser Kunden seien mit ihren bisherigen Beschaffungsstrategien „der veränderten Situation nicht gewachsen“.

Strompreis: Neuverträge werden zum Lotteriespiel

Die steigenden Großhandelspreise werden auch bei den Privatkunden durchschlagen. Schon im ersten Halbjahr sind die Preise nach Angaben des Verbraucherportals Verivox gestiegen, und der Trend zeige angesichts der Großhandelspreise weiter nach oben. Bei den Privatkunden wird die Stromrechnung aber inzwischen im Wesentlichen von den Netzentgelten, Gebühren und Umlagen bestimmt. Die Beschaffungskosten machen weniger als ein Viertel aus.

Viele energieintensive Unternehmen werden dagegen bei den Umlagen entlastet, einen entsprechend größeren Einfluss hat der Großhandelspreis auf ihre Energiekosten. Für sie ist die Entwicklung an der Strombörse bedrohlich. Die Notierungen werden in der Regel zur Grundlage für längerfristige Verträge genommen – und eben vor allem bei Neuabschlüssen zum Problem.

Viele Unternehmen hätten sich zwar im vergangenen Frühjahr, als die Preise niedrig waren, mit Strom für die kommenden zwei, drei Jahre eingedeckt, sagt Berater Hahn: „Aber nicht alle waren so vorsichtig – und für die anderen ist schon jetzt klar, dass der nächste Stromvertrag deutlich teurer wird.“

Und selbst, wer aktuell günstig versorgt ist, steht vor einer kniffligen Frage: Soll er warten, ob die Preise wieder sinken – oder lieber jetzt einen neuen Vertrag abschließen, weil die Preise noch weiter ansteigen werden?

Dabei gibt es kaum Hoffnungen auf eine nachhaltige Besserung: „Die Preiskurve zeigt wirklich steil nach oben“, sagt Tobias Federico, Geschäftsführer des Analysehauses Energy Brainpool: „Solche Preisniveaus haben wir seit der Finanzkrise nicht mehr gesehen.“

Vor der Finanzkrise waren die Preise sogar auf 90 Euro je MWh geklettert – die Industrie hatte schon einmal heftig gestöhnt und über die Marktmacht der Energieversorger geklagt. Nach der Finanzkrise bewegten sich die Großhandelspreise aber kontinuierlich nach unten.

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Das lag an einem Überangebot, weil der Markt mit grünem Strom geflutet wurde und die großen Kraftwerke ihren Strom kaum verkaufen konnten. Vor gut fünf Jahren kostete eine MWh kaum mehr als 20 Euro. Inzwischen ist der Markt aber bereinigt, viele Atomkraftwerke sind schon abgeschaltet und auch Kohle- und Gaskraftwerke vom Netz gegangen.

Die aktuelle Preisrally liegt nach Federicos Worten aber zum großen Teil am Anstieg des CO2-Preises. Der Preis der Zertifikate, die Emittenten des Treibhausgases je Tonne vorweisen müssen, liegt derzeit bei knapp unter 55 Euro. Im März vergangenen Jahres waren es gerade einmal 25 Euro. Damals standen während des ersten Lockdowns viele Fabriken still. Der Stromverbrauch ging spürbar zurück. Der Strompreis brach ein – und auch die CO2-Emssionen sanken deutlich.

Laut Federico gibt es aber noch andere Effekte. Zum einen stiegen die Rohstoffpreise „seit einigen Monaten rasant an – vor allem Erdgas“. Zudem mache sich in Deutschland inzwischen der Atom- und Kohleausstieg bemerkbar, der die Kapazitäten zur Stromproduktion verknappe.

„Der Trend dürfte nachhaltig sein“, sagt der Experte: „Die Strompreise werden auf einem hohen Niveau bleiben.“ Die Entwicklung der Rohstoffpreise sei zwar schwierig einzuschätzen, aber der CO2-Preis müsse auch langfristig hoch bleiben, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen.

Auch der Gaspreis steigt

Viele Unternehmen sind sich dessen offenbar bewusst: „Ich kenne viele Unternehmen, die sich derzeit überlegen, trotz der hohen Strompreise einen Anschlussvertrag abzuschließen“, sagt Berater Hahn. Er empfiehlt seinen Kunden, „gestaffelt vorzugehen“ – und nicht alle Strommengen zum selben Zeitpunkt zu verlängern. Zudem rät er, einen Teil des Stroms direkt bei Ökostromproduzenten langfristig zu kaufen. Solche sogenannten PPAs rechneten sich oft schon nach zwei Jahren.

„Wir überlegen gerade, wie wir darauf reagieren“, sagt Coatinc-Einkaufschef Mülder: „Wir werden bei unserem neuen Vertrag sicher auf mehr Flexibilität achten.“

Aber der Strompreis ist auch nicht sein einziges Problem. „Nicht nur die Strompreise steigen, die Gaspreise haben sich sogar mehr als verdoppelt“, sagt Mülder. Aktuell kostet eine MWh in der Beschaffung rund 25 Euro, im vergangenen Jahr kostete sie im Durchschnitt nur rund zehn Euro.

Zudem wird hier ab diesem Jahr noch der neue CO2-Preis von umgerechnet rund fünf Euro je MWh draufgeschlagen werden. Es gibt zwar Härtefallregeln für energieintensive Unternehmen, Coatinc fällt aber nicht unter die Regel. „Für uns ist das ein großes Problem“, sagt Mülder. „Der deutliche Anstieg der Gas- und Strompreise bringt für uns deutliche Mehrkosten.“

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