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22.01.2019

18:50

Handelsblatt Energie-Gipfel

Der Kampf um den Zeitpunkt des Kohleausstiegs

Von: Jürgen Flauger, Dana Heide, Silke Kersting, Klaus Stratmann, Kathrin Witsch

Die Wirtschaft warnt vor einem übereilten Kohleausstieg. Bundeswirtschaftsminister Altmaier stellt neue Entlastungen bei den Stromkosten in Aussicht.

Klaus Stratmann, stellvertretender Leiter des Handelsblatt-Hauptstadtbüros, Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister, und Sven Afhüppe, Handelsblatt-Chefredakteur (v.l.). Dietmar Gust, Euroforum

Handelsblatt Energie-Gipfel 2019

Klaus Stratmann, stellvertretender Leiter des Handelsblatt-Hauptstadtbüros, Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister, und Sven Afhüppe, Handelsblatt-Chefredakteur (v.l.).

Berlin Der Kohleausstieg in Deutschland ist praktisch beschlossen. Es geht nur noch um den detaillierten Fahrplan. Am Freitag kommt die von der Bundesregierung beauftragte Kohlekommission zu ihrer vielleicht entscheidenden Sitzung zusammen.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier appellierte deshalb nun kurz vor dem Treffen noch einmal eindringlich, den Ausstieg nicht zu überstürzen: „Wir dürfen die Netze, die Versorger, die Unternehmen und die Verbraucher nicht überfordern“, warnte er auf dem Handelsblatt Energie-Gipfel, schließlich steige Deutschland schon aus der Atomkraft aus.

Die Kohlekommission will einen Fahrplan festlegen, wie Deutschland die Verstromung von Kohle und die Förderung von Braunkohle beenden kann. Dabei drängen die beteiligten Umweltverbände auf einen möglichst schnellen Ausstieg.

Eine Sorge treibt Altmaier dabei vor allem um: „Die Bezahlbarkeit von Energie ist nicht irgendeine Frage für den Standort Deutschland.“ Die Spitzenverbände der Industrie, BDI, BDA und DIHK, warnten am Dienstag vor den Kosten des Kohleausstiegs. Der Minister nimmt die Bedenken ernst und versprach der Industrie neue Entlastungen bei den Kosten.

RWE-Chef Rolf Martin Schmitz mahnte mit Blick auf den zeitgleichen Atomausstieg, die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden: „Wenn ich höre, bis wann einige die Kohle komplett stilllegen wollen, dann ist das, vorsichtig ausgedrückt, schon abenteuerlich.“

Altmaier versucht, die Wirtschaft zu beruhigen

RWE ist Deutschlands größter Kohlekonzern. Kein anderes Unternehmen verfeuert so viel Kohle in seinen Kraftwerken. Vor allem aber fördert RWE in seinen Tagebaubetrieben im Rheinischen Revier Braunkohle. Trotzdem sagt auch RWE-Chef Rolf Martin Schmitz: „In 30 Jahren wünsche ich mir ein Energiesystem, was nur noch aus erneuerbaren Energien, schnell startenden Gaskraftwerken und Speichern besteht“, hielt der Manager auf dem Energie-Gipfel des Handelsblatts in Berlin fest.

RWE will sein künftig dominierendes Ökostromgeschäft mit Milliardensummen ausbauen. RWE stehe für einen breiten Energiemix unter einem Dach, sagte Schmitz. Sein Konzern werde nach der Übernahme der Erneuerbaren-Energien-Anlagen vom Konkurrenten Eon zu einem der führenden Ökostrombetreiber Europas. „Wir können etwa 1,5 Milliarden im Jahr aus eigenen Mitteln finanzieren - dann können wir noch ein bisschen Schulden zu machen, das sind dann rund 2,5 Milliarden.“ Ziel sei, die Kapazitäten jährlich um zwei bis drei Gigawatt auszubauen, sagte Schmitz.

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Für ihn ist es keine Frage mehr, dass der Kohleausstieg kommt. Entscheidend sei aber die Frage des „Wie“. Seit Sommer versuchen 31 Experten aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Politik und von Umweltverbänden, diese Frage zu klären. Die Kohlekommission prüft, wie Deutschland die Verstromung von Kohle und die Förderung von Braunkohle mit Blick auf den Klimaschutz möglichst rasch beenden kann. Gleichzeitig soll sie die Interessen der Unternehmen, Mitarbeiter und Regionen berücksichtigen.

Es geht um kurzfristige Stilllegungen von ersten Kohlekraftwerken, auf die die Umweltschützer drängen, einen langfristigen Pfad, der das Aus der Kohle zügig nach 2030 besiegeln dürfte, Unterstützung für Mitarbeiter und Regionen – und die Entschädigung der Konzerne.
„Kohlekraftwerke schnell komplett abschalten klingt populär. Aber seriös ist es überhaupt nicht“, warnte Schmitz, „weil es Versorgungssicherheit gefährdet, Unternehmen erheblich belastet, Arbeitsplätze kostet und den Menschen in den Regionen den Boden unter den Füßen wegzieht.“

Deutschland sei das einzige Industrieland der Welt, das gleichzeitig aus der Atomenergie aussteige und die Dekarbonisierung vorantreibe, sagte Altmaier. Das parallel zu machen sei eine Herausforderung.

Er versprach deshalb, auf drei Dinge zu achten: Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit: „Die Energiewende kann gelingen, aber nur mit einem langfristig klaren und vertretbaren Fahrplan.“ Im November war bekannt geworden, dass die in der Kohlekommission vertretenen Umweltverbände bis 2022 rund 16 Gigawatt Leistung von Braunkohle- und Steinkohlekraftwerken abschalten wollen. Der BUND hält zudem einen kompletten Ausstieg aus der Kohle bis 2030 für möglich.

Die großen deutschen Wirtschaftsverbände sind jedenfalls alarmiert. Am Dienstag warnten sie vor den Kosten eines schnellen Kohleausstiegs bis 2030 und präsentierten ein Kurzgutachten des Beratungsunternehmens Aurora Energy Research.

Ein politisch beschleunigter Rückgang der Kohleverstromung verursache bis 2030 – je nach Strompreisentwicklung – zusätzliche Kosten von 14 bis 54 Milliarden Euro, erklärten der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Die erwarteten Mehrkosten resultierten aus Strompreissteigerungen, die sowohl Unternehmen als auch private Haushalte treffen würden, hieß es. Vor allem die besonders stromintensive Industrie sei vom Rückgang der Kohleverstromung betroffen. „Ohne Kompensation für unsere Unternehmen würde dieser politisch getriebene Anstieg der Strompreise dem Wirtschaftsstandort Deutschland schwerste Schäden zufügen“, mahnte BDI-Präsident Dieter Kempf.

Altmaier versuchte, die Wirtschaft zu beruhigen. Er will darauf achten, dass es nicht zu größeren Einschnitten kommt. Deutschland werde 2021 rund vier Gigawatt Atomstrom vom Netz nehmen und im Jahr 2022 noch einmal rund vier Gigawatt, sagte Altmaier: „Und wenn wir Versorgungssicherheit wollen und ernst meinen, dann wissen wir, dass dann in diesem Zeitraum nicht mehr viel geschehen kann. Wohl davor und danach – und darüber redet die Kommission, und das sollten wir abwarten.“

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Die Strompreise in Deutschland gehören bereits heute zu den höchsten in der Europäischen Union. Jede zusätzliche Preiserhöhung, mahnten die Verbände, würde die Wachstumsaussichten der Wirtschaft nicht nur in den Kohleregionen, sondern in ganz Deutschland einschränken. Eine Kompensation der zu erwartenden Strompreissteigerungen ist für die Spitzenverbände daher zwingende Voraussetzung für ihre Zustimmung zu einem beschleunigten Kohleausstieg.

Sorge um das Stromnetz

Die Bezahlbarkeit von Strom „ist nicht irgendeine Frage“, sagte Altmaier. Wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien dazu führe, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland leidet, „dann werden wir diese Energiewende nirgendwohin exportieren“. Der Bundeswirtschaftsminister versprach, dass er die Ausnahmen der energieintensiven Unternehmen von der Ökostromumlage beibehalten und möglicherweise sogar ausweiten will.

Auch die bis 2020 befristete Strompreiskompensation, also die Kompensation für die Kosten der CO2-Verschmutzungsrechte, solle fortgeführt werden. Ob auch Unternehmen geholfen werden könne, die nicht als energieintensiv eingestuft seien, oder ob das notwendig sei, seien Fragen, die man im Zusammenhang mit der Kommission zum Kohleausstieg „im Auge behalten“ müsse, sagte Altmaier. Er zeigte sich optimistisch, dass die EU-Kommission mögliche neue Beihilfen auch genehmigen würde.

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Dort sei inzwischen ein „hohes Verantwortungsbewusstsein vorhanden“. Die Energiewende sei „kein Kinderspiel“, sondern eine „hochkomplexe Angelegenheit“, betonte RWE-Chef Schmitz und appellierte, die Versorgungssicherheit ernst zu nehmen. Es gebe zwar Tage, an denen die erneuerbaren Energien den Strombedarf zu 70 Prozent und mehr deckten, es gebe aber auch Tage, an denen der Anteil auf fünf Prozent zusammenschrumpfe, weil kein Wind weht und die Sonne nicht scheint.

„Aber in dieser Bandbreite – Anteil der Erneuerbaren mal fünf, mal 70 Prozent – muss jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, ja sogar jede einzelne Sekunde Versorgungssicherheit gewährleistet werden“, sagte Schmitz. „Das tun konventionelle Kraftwerke, die 24 Stunden am Tag verfügbar sind.“

Schon ohne die zusätzliche Abschaltung von Kohlekraftwerken werde es schwieriger, Versorgungssicherheit zu gewährleisten. „Jede politisch gewünschte Stilllegung gehört unter den Vorbehalt der Versorgungssicherheit“, forderte Schmitz. „Der Industriestandort Deutschland muss in der Lage sein, sich eigenständig und wetterunabhängig mit Strom zu versorgen.“


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