Ausgerechnet im Ukrainekrieg ist die Ukraine dem europäischen Stromnetz beigetreten. Was das für die künftige Netzstabilität in Deutschland und der EU bedeutet.
Umspannwerk in Zaporischja
Das ukrainische Stromnetz ist seit März mit dem europäischen Netz verbunden.
Bild: imago images / Ukrinform
Düsseldorf Wie kompliziert Beitritte in westliche Verbünde sein können, spürt die Ukraine, wenn es um das Thema EU-Mitgliedschaft geht. Beim Stromnetz hingegen ging es vermeintlich schnell: Keine drei Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs verkündete die EU, das ukrainische Stromnetz sei jetzt mit dem kontinentaleuropäischen verbunden. Energiekommissarin Kadri Simson sagte: „In diesem Bereich ist die Ukraine jetzt ein Teil Europas.“
Die Stromleitungen der EU-Länder sind miteinander zu einem großen Netz verbunden. So können die Staaten sich gegenseitig Strom verkaufen. Außerdem sind große Netzverbünde besser gegen Stromausfälle geschützt als kleinere. Von diesen Vorteilen profitiert jetzt auch die Ukraine, die zuvor zum russischen Stromnetz gehörte.
Doch die abrupte Umstellung, die auch das moldauische Netz umfasst, wirft Fragen auf. Schließlich leidet die Ukraine seit Kriegsbeginn wiederholt unter Cyberattacken russischer Hackergruppen, die teils Stromausfälle auslösen wollen.
Die Stiftung Politik und Wissenschaft (SWP) hatte bereits im November 2021 in einem Beitrag gewarnt, bei einer Kopplung der Netze könne ein Stromausfall in der Ukraine oder in Moldau auch auf andere Teile Europas übergreifen. Auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik warnte in einem Schreiben an Unternehmen vor Folgen für das europäische Verbundnetz und Deutschland.
Konkret verwies die SWP etwa auf das moldauische Gaskraftwerk Kutschurgan in Transnistrien, das Gegenstand eines Streits mit Moskau sei. „Diese Großanlage erzeugt 80 Prozent des Strombedarfs von Moldau“, hieß es in dem Beitrag. Würde die Anlage ausfallen oder auch das ukrainische Kernkraftwerk in Saporischschja mit einer Gesamtkapazität von sechs Gigawatt, bräche stabile Grundlast weg. Die SWP warnte vor „hohem Ansteckungspotenzial für das gesamte synchrone Netz“.
Auch der Wissenschaftler Dirk Witthaut vom Forschungszentrum Jülich gibt zu bedenken: „Wenn wir große Mengen Strom aus der Ukraine in der Größenordnung von zehn Gigawatt importieren würden und es käme zu einem Stromausfall in der Ukraine etwa durch eine Cyberattacke, dann könnte das einen Blackout verursachen.“
Beim letzten großen Stromausfall in Europa 2006 kam es zu einem solchen Szenario: Der Südwesten Europas hatte aus dem Nordosten rund zehn Gigawatt Strom bezogen. Als eine Hochspannungsleitung in Norddeutschland abgeschaltet wurde, setzte sich eine Kettenreaktion in Gang, in deren Folge immer mehr Leitungen und Netze ausfielen. In Teilen Deutschlands, Frankreichs, Belgiens, der Niederlande, Österreichs, Italiens und Spaniens fiel der Strom aus.
Der Blackout konnte nur noch durch radikale Maßnahmen abgefangen werden. „Man hat rigoros ganze Städte und Industriebetriebe rausgeworfen und dadurch das Netz wieder ins Gleichgewicht gebracht. Das lief vollautomatisch in Millisekunden ab.“
Entsprechend würde es in solch einem Szenario wohl der Ukraine ergehen: Weil das Land nur über wenige Leitungen mit dem europäischen Stromnetz verbunden sei, wäre es laut Witthaut nicht unwahrscheinlich, dass ein Vorfall wie 2006 zur Abtrennung führen würde.
Allerdings sind solche Szenarien hypothetisch. Bislang werden nur geringe Strommengen zwischen der EU und der Ukraine ausgetauscht. Entsprechend gelassen sieht Joachim Vanzetta, Vorstandschef des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (Entso-E), die Situation.
Er erklärt, warum der Zusammenschluss der Netze trotz erhöhter Cybergefahren kurz nach Kriegsbeginn erfolgte: „Wir haben bereits seit 2017 ein Synchronisierungsprojekt mit der Ukraine“, sagt er. „Die Implementierung von notwendigen technischen Maßnahmen für eine Synchronisierung und den Bau von zusätzlichen Leitungen erreicht man nicht von heute auf morgen, das ist ein langer Prozess.“
Zufällig fiel der Abschluss der wichtigsten Untersuchungen für den Zusammenschluss exakt mit dem Kriegsbeginn zusammen. Vor dem Anschluss ans europäische Stromnetz sollte die Ukraine testweise im „Inselbetrieb“ fahren, also selbstständig allein ihre Stromversorgung aufrechterhalten.
„Kurioserweise hatten wir diesen Inselversuch schon vor über einem Jahr für den 24. Februar geplant“, sagt Vanzetta. Also für den Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine startete. Unter normalen Umständen wäre der finale Stromnetz-Umstieg allerdings erst 2023 erfolgt. Der 24. Februar war der frühestmögliche Zeitpunkt, um den Umstieg einzuleiten.
Der Sorge, russische Angriffe auf das ukrainische Stromnetz könnten das europäische Netz in Mitleidenschaft ziehen, widerspricht Vanzetta allerdings. Die Ukraine könne noch nicht in großem Stil Strom mit dem Rest von Europa austauschen und handeln. Es sei sichergestellt, dass es keine negativen Auswirkungen auf das Netz Kontinentaleuropas gebe. Wenn etwa durch den Krieg in der Ukraine ein großes Kraftwerk ausfalle, dann würden Sicherungssysteme das ukrainische Netz binnen Sekunden vom restlichen Stromnetz abkoppeln.
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