Inflation und Ukrainekrieg machen Lebensmittel teurer. Geschäftsideen zur Abfallvermeidung, die zudem Geld sparen, sind deshalb gefragt wie nie.
Lebensmittel in der Tonne
78 Kilo Lebensmittel pro Kopf landen in Deutschland im Jahr in der Tonne. Der meiste Abfall entsteht nicht bei Produktion oder im Handel, sondern in privaten Haushalten.
Bild: dpa
Düsseldorf Die Preise in deutschen Supermärkten steigen und steigen – dennoch wandern viele Lebensmittel in den Müll. Start-ups, die diese Verschwendung vermeiden wollen, haben daher aktuell einen großen Zulauf. So stieg die Zahl der Essensportionen, die das Start-up Too Good To Go vor der Tonne bewahrte, im ersten Halbjahr 2022 deutlich von etwa 20.000 auf rund 30.000 am Tag. Über die App können Restaurants, Bäckereien, Cafés, Hotels und Supermärkte ihr überschüssiges Essen zu einem vergünstigten Preis an Selbstabholer vermitteln – statt es in die Tonne zu werfen.
„Wenn Nahrungsmittel immer teurer werden, verändert das unsere Wertschätzung. Uns wird bewusst, dass mit den weggeworfenen Lebensmitteln auch bares Geld in die Tonne wandert“, sagt Wolfgang Hennen, Geschäftsführer Deutschland von Too Good To Go. 16.500 Partnerbetriebe hat sein Unternehmen in Deutschland. Acht Millionen Menschen hierzulande nutzen die App gegen Lebensmittelverschwendung.
Denn die Verbraucher merken: Wer Lebensmittel rettet, kann Geld sparen. Bei einer vierköpfigen Familie fallen vermeidbare Kosten von fast 350 Euro an, rechnete Edeka zum Tag der Lebensmittelverschwendung am Donnerstag vor. Im Jahr 2020 – als die Inflation noch niedrig war – haben allein die deutschen Haushalte insgesamt 6,5 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Das sind 59 Prozent aller Lebensmittelabfälle hierzulande. Neuere Zahlen sind beim Bundesministerium für Ernährung noch nicht verfügbar.
Pro Kopf werfen die Deutschen jedes Jahr 78 Kilo Lebensmittel in den Müll. Darin enthalten sind aber auch Schalen von Nüssen oder Zitrusfrüchten, Knochen und Kaffeesatz, also Müll, der sich nicht vermeiden lässt. Ein Drittel der Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten ist Obst und Gemüse. 16 Prozent sind zubereitetes Essen, 14 Prozent Brot und Backwaren. Das zeigt eine Studie des Analysefirma GfK von 2017.
Bei der Außer-Haus-Verpflegung – in Restaurants und Kantinen – entstehen 17 Prozent des Lebensmittelabfalls in Deutschland. Sieben Prozent der Überschüsse stammen aus dem Handel. 15 Prozent der Abfälle fallen bei der Verarbeitung von Lebensmittel an. Lediglich zwei Prozent entstehen bei der Primärproduktion, also in der Landwirtschaft. Denn viele überschüssige oder verdorbene Reste werden betriebsintern dort wiederverwertet – als Tierfutter oder in Biogasanlagen.
Vom Landwirt bis zum Teller entstanden 2020 hierzulande Lebensmittelabfälle von 10,9 Millionen Tonnen. Weltweit werden laut Uno jedes Jahr bis zu zwei Milliarden Tonnen vergeudet, das sind 33 bis 40 Prozent aller Lebensmittel.
Die Verteilung sieht global etwas anders aus als in Deutschland: Mehr als die Hälfte der Lebensmittel weltweit im Wert von 600 Milliarden Dollar gehen bereits bei oder kurz nach der Ernte verloren, schätzt die Unternehmensberatung McKinsey. Die vergeudeten Lebensmittel verbrauchen demnach ein Viertel der globalen Süßwasservorräte und machen acht Prozent der weltweiten Emissionen aus – und damit viermal so viel wie die Luftfahrtindustrie. Dabei könnten 50 bis 70 Prozent der globalen Lebensmittelverluste entlang der Wertschöpfungskette vermieden werden, meint McKinsey.
Die Ansätze im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung sind vielfältig. „Das Problem beginnt nicht mit der Entsorgung der überschüssigen Lebensmittel“, sagt Alexander Piutti, Gründer und Chef des Berliner Start-ups SPRK.global, „sondern das eigentliche Problem ist die massive Überproduktion entlang der Lieferkette.“ Mithilfe Künstlicher Intelligenz erfasst das Start-up, wann und wo zu viel produziert wird und wohin Überschüsse umverteilt werden können.
Wenn etwa ein Großhändler Obst oder Gemüse nicht mehr verkaufen kann, bietet SPRK an, die Überschüsse an Großküchen oder SOS Kinderdörfer zu vermitteln. Caterer Eurest etwa hat eigens Rezepte für Obstsalat oder Fruchtragouts entwickelt, die mindestens 30 Prozent überschüssige Früchte von der SPRK-Plattform enthalten.
Bäckerei
Unverkaufte Backwaren und Brote erreichen 600.000 Tonnen im Jahr. KI-gesteuerte Planung hilft Bäckereien, Überproduktion zu vermeiden.
Bild: NurPhoto/Getty Images
Das schwedische Start-up Motatos vermittelt ebenfalls Lebensmittel aus Überproduktion, mit kleinen Fehlern oder nur noch kurzer Haltbarkeit – allerdings direkt an Verbraucher. Sie werden zum kleinen Preis im Onlineshop angeboten. So wurden in Kooperation mit Großproduzenten wie Unilever oder Mars bis dato 17.000 Tonnen in Deutschland und 44.000 Tonnen weltweit gerettet.
Die Umsätze von Motatos sind hierzulande zum Jahresanfang um 79 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Die Warenkörbe sind zuletzt gewachsen. Kunden suchen weniger nach konkreten Marken, sondern nach günstigen Alternativen in allen Kategorien. „Wir führen dies klar auf eine noch höhere Preissensibilität zurück“, sagt Deutschlandchef Alexander Holzknecht. Er erwartet einen Jahresnettoumsatz von etwas über 30 Millionen Euro.
Die Bäckereikette Schüren aus Hilden verwertet seit kurzem Brotreste in einem preisgünstigen „Anti-Inflationsbrot“. Das Biobrot besteht zu 20 Prozent aus Resten von unverkauftem Brot. Dieses Altbrot wird als Croutons dem Teig beigegeben.
Der 750 Gramm Laib kostet 2,88 Euro. „Die 98 Cent Preisvorteil gegenüber einem vergleichbaren Biobrot sind gewissermaßen auch ein politischer Preis. Der soll Verbrauchern und der Bäckerei helfen, durch die aktuell sehr herausfordernde Zeit zu kommen“, sagt Inhaber Roland Schüren, der 20 Filialen rund um Düsseldorf betreibt. Zugleich hilft das „Anti-Inflationsbrot“ gegen Lebensmittelverschwendung.
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Die Umweltschutzorganisation WWF schätzt, dass in Deutschland im Jahr 1,7 Millionen Tonnen Brot und Backwaren im Müll landen. So werde die Ernte von rund 398.000 Hektar Ackerland verschwendet – eine Fläche etwa so groß wie Mallorca. Allein die Retouren, also zum Ladenschluss unverkaufte Backwaren, summieren sich laut WWF hierzulande auf rund 600.000 Tonnen im Jahr. Auf Lkw verteilt und hintereinander gereiht ergäbe dies eine Strecke von knapp 400 Kilometern. Einen Teil davon bekommen gemeinnützige Tafeln oder die Reste werden als Schweinefutter verwertet.
Der WWF fordert, dass Lebensmittelüberschüsse wie Backwaren-Retouren nicht länger vom Handel als Verluste steuerlich abgesetzt werden können. „Der Staat subventioniert so Lebensmittelverschwendung“, meint Tanja Dräger, Ernährungsexpertin beim WWF Deutschland.
Gründer von Delicious Data
Jakob Breuninger (l.) und Valentin Belser helfen Restaurants und Bäckereien, Lebensmittelverluste zu vermeiden.
Bild: Delicious Data
Kunden erwarten jedoch gut gefüllte Theken, auch kurz vor Ladenschluss. KI kann Bäckern und Kantinen helfen, nicht mehr über Bedarf zu produzieren. Das Start-up Delicious Data etwa liefert Vorhersagen für den optimalen Einsatz von Lebensmitteln. „Kunden wie Bäckereien und Restaurants können vermeidbare Lebensmittelverluste reduzieren und den Personaleinsatz optimieren. Nebenbei werden noch CO2-Emissionen und Kosten reduziert“, sagt Investor Carsten Maschmeyer, der kürzlich in die Münchner Firma investierte.
„Unsere KI sagt voraus, wie viele Schnitzel, Tortellini oder Salatbowls verkauft werden“, erklärt Co-Gründer Valentin Belser. Dabei werden Daten aus der Kundenhistorie, Feiertage und Wetter ausgewertet. „Mit unseren Partnern konnten wir bereits 820.000 Mahlzeiten retten, das entspricht etwa 1000 Tonnen CO2-Äquivalenten.
Für Lebensmittelretter, die gespendete Waren an Bedürftige abgeben, kann die Vermeidung von Überschuss allerdings Folgen haben: Die gemeinnützigen Tafeln haben derzeit so großen Zulauf, dass sie teilweise Bedürftige ablehnen müssen. Gleichzeitig ist die Zahl der Lebensmittelspenden gesunken.
Hinweis: Motatos hat seine Angaben zur Menge der geretteten Lebensmittel im Nachhinein korrigiert.
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