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29.09.2021

04:30

Lebensmittelverschwendung

Mit diesen Ideen machen Unternehmen die Müllvermeidung zum Geschäft

Von: Katrin Terpitz

In Deutschland landen im Jahr zwölf Millionen Tonnen Nahrung im Müll. Firmen verdienen an der Rettung von Lebensmitteln und schützen so auch das Klima.

Supermärkte, Restaurants oder Bäcker können überschüssige Lebensmittel über die App Too Good To Go zu günstigen Preisen abgeben. real GmbH

To Good to Go im Real-Markt

Supermärkte, Restaurants oder Bäcker können überschüssige Lebensmittel über die App Too Good To Go zu günstigen Preisen abgeben.

Düsseldorf Seien es Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern, Schokolade mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum oder schlicht Fehlplanungen bei Händlern oder Kantinenbetreibern: In Deutschland entstehen jährlich rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle. Die Hälfte davon wäre vermeidbar, schätzt das bundeseigene Thünen-Institut.

Weltweit ist die Dimension des Problems noch gewaltiger. Jedes Jahr werden rund 2,5 Milliarden Tonnen, sprich 40 Prozent aller Lebensmittel, weggeworfen, ermittelte die Umweltschutzorganisation WWF. Dabei sind fast 700 Millionen Menschen auf der Erde nicht ausreichend mit Nahrung versorgt.

Mit der Menge an verschwendeten Nahrungsmitteln in Privathaushalten, Gastronomie und Handel ließen sich 23 Millionen Lastwagen füllen, die hintereinander sieben Mal rund um den Äquator reichen würden, errechnete das Umweltprogramm der Uno. Die Organisation hat daher den 29. September zum „Welttag gegen Lebensmittelverschwendung“ erklärt. Bis 2030 soll die Menge der Lebensmittelabfälle halbiert werden.

Neben öffentlichen Kampagnen wie „Zu gut für die Tonne“ entstehen in Deutschland immer mehr innovative Geschäftsmodelle, die die Verschwendung eindämmen – und so auch das Klima schützen. Denn Lebensmittelabfälle sind für zehn Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich.

Die Start-ups, aber auch viele etablierte Hersteller setzen überall in der Wertschöpfungskette an. Denn während in Deutschland 52 Prozent des Mülls bei den Verbrauchern anfallen, sind auch alle anderen Sektoren betroffen. Ein Überblick:

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Landwirtschaft

Ein erheblicher Teil der Ernte bleibt bereits auf dem Feld liegen, weil das Aussehen der Feldfrüchte nicht der gewünschten Norm entspricht. Das Unternehmen Etepetete aus München vertreibt das krumme Biogemüse und Obst mit Schönheitsfehlern online.

Auch Start-ups wie Querfeld aus Berlin beliefern Privatleute und Kantinen mit „krummen Dingern“, die sonst nie den Weg vom Biobauern in den Handel gefunden hätten. Dörrwerk hat sich auf die Verwertung von Obst und Gemüse spezialisiert, das wegen ästhetischer Mängel aussortiert wurde. Unter dem Label „Rettergut“ verkaufen die Berliner Produkte von Biosuppe bis Fruchtaufstrich.

Produktion

Beim Getreideverarbeiter Nordgetreide fallen große Mengen Maisgrieß als Reststoff an. Nach einem patentierten Verfahren der Uni Göttingen produzieren die Lübecker nun mit ihrer Schwesterfirma Plant Pack aus gepufftem Maisgrieß nachhaltige Verpackungen.

Das Naturmaterial ist stoßfest, wärmeisolierend und nahezu beliebig formbar. Es eignet sich für den Transport von Elektrogeräten oder für temperatursensible Lebensmittel oder Medikamente. Anders als Styropor kann Plant Pack in der Biotonne oder auf dem Kompost entsorgt werden.

Die Allgäuer Privatkäserei Hochland gründete nach einem Ideenwettbewerb das interne Start-up Beetgold. Das stellt aus Gemüsetrester, der beim Saftpressen entsteht, Tortillas her – bisher in den Sorten Karotte und Rote Bete. „Die Reste sind ein hochwertiger Rohstoff voller Ballaststoffe. Es wäre schade, wenn sie als Tierfutter enden“, sagt Hochland-Chef Peter Stahl. „So können wir helfen, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren.“

Handel

1,5 Prozent ihres Lebensmittelumsatzes ging den großen Groß- und Einzelhändlern in Deutschland 2020 verloren, weil die Produkte aus ihrer Sicht nicht mehr verkäuflich waren, ermittelte das EHI Retail Institute. Im Vorjahr waren es noch 1,76 Prozent.

Rund 30 Prozent spendet der Handel gemeinnützigen Organisationen. Die rund 950 Tafeln hierzulande retten jährlich 265.000 Tonnen überschüssige Lebensmittel vornehmlich bei Supermärkten, Großbäckereien und Großhändlern. 1,65 Millionen Bedürftige versorgen sich dort. Auch Plattformen wie Foodsharing.de verteilen ungenutzte Produkte ehrenamtlich und kostenfrei.

Die rund 950 Tafeln in Deutschland retten jährlich 265.000 Tonnen überschüssige Lebensmittel und verteilen sie an Bedürftige. picture alliance / SULUPRESS.DE

Die Tafel der Martin-Luther-Gemeinde in Berlin

Die rund 950 Tafeln in Deutschland retten jährlich 265.000 Tonnen überschüssige Lebensmittel und verteilen sie an Bedürftige.

Es gilt aber auch: Wenn Lebensmittel länger frisch bleiben, landen sie seltener in der Tonne. Lidl verpackt deshalb seit Kurzem seine Biogurken wieder in Folie. Frische garantiert aber nicht nur das umstrittene Plastik. Supermärkte wie Edeka verkaufen Avocados und Zitrusfrüchte mit einer essbaren Schutzschicht. Das kalifornische Start-up Apeel Sciences entwickelte den Überzug, der die Reifung verzögert, aus pflanzlichen Fetten, die aus Schalen und Fruchtfleischresten gewonnen werden.

Der Onlinesupermarkt Motatos wiederum rettet Waren aus Überproduktion, mit Fehlverpackung oder einer kurzen Mindesthaltbarkeit und verkauft sie günstig weiter. Seit April 2020 sind die Schweden mit ihrem Slogan . „Geld sparen und den Planeten retten“ in Deutschland aktiv. Markenprodukte von Coca-Cola bis Milka-Schokolade werden mit hohen Rabatten verkauft. Zuletzt sammelten die Schweden 35 Millionen Euro Kapital ein.

Ähnlich arbeitet Sirplus. Das Impact-Start-up verkauft seit 2017 überschüssige Lebensmittel, die Tafeln nicht abholen, günstiger online. Zu den etwa 800 Partnern zählen Danone, Veganz oder Edeka Foodservice. Die fünf Berliner Filialen allerdings überstanden den Lockdown nicht.

Gastronomie

Restaurants und Kantinen verarbeiten verderbliche Ware. Digitale Hilfsmittel ersetzen nun das Bauchgefühl der Gastwirte, wie viel bestellt wird. „Unsere KI sagt voraus, wie viele Schnitzel, Tortellini oder Salatbowls verkauft werden“, sagt Valentin Belser, Mitgründer von Delicious Data.

Die Gastronomie von Bayer in Berlin etwa nutzt die Software, um Speisemüll und teure Fehlplanungen zu vermeiden. Das lernende Prognosetool kombiniert Daten aus der Verkaufshistorie mit Wetterberichten und Ferienterminen. Bei einer Bäckereikette testete das Start-up einen intelligenten Backplan, damit Brötchen nach Bedarf aus dem Ofen kommen.

Überschüssige Sandwiches vom Bäcker, Sushi vom Japaner oder eine Tüte Lebensmittel vom Supermarkt: Über die App Too Good To Go (TGTG) lässt ich eine Überraschungstüte zurücklegen. Sie kostet um die vier Euro, in der Regel ein Drittel des Originalpreises. Das Start-up verdient an jeder Tüte nach eigenen Angaben etwa einen Euro.

65 Millionen Mahlzeiten sollen in diesem Jahr über die App gerettet werden. Etwa 31 Millionen Menschen in 15 Ländern nutzen den Dienst. Die Dänen, die 2020 noch Verluste schrieben, haben Großes vor: Kürzlich sammelten sie 31 Millionen Dollar für die Expansion in den USA ein.

Doch es gibt auch Kritik: Die App werde als zusätzlicher Vertriebskanal missbraucht und setze den Anreiz, bis Ladenschluss das volle Sortiment zu bieten. „Der Kunde will eine große Auswahl und kurze Wartezeiten“, erklärt Nordsee, ein Hauptpartner von TGTG. Die Kette sei darauf angewiesen, stets viele Fischbrötchen zu präsentieren.

Entscheidend ist letztlich, welche Geschäftsideen die Verbraucher annehmen. Sharingplattformen und die Herstellung von Lebensmitteln aus Resten halten sie für besonders effektiv gegen Verschwendung. Das ergab eine Umfrage der Beratung Kearney, die dem Handelsblatt vorab vorliegt. „Ugly Food“ oder Unverpacktläden dagegen werden als weniger wirksam eingeschätzt. Vor allem wollen die Konsumenten nicht draufzahlen, wenn sie Lebensmittel retten.

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