Hunderttausende Passagiere blieben zuletzt auf bezahlten Tickets sitzen. Die Rückerstattung zieht sich häufig hin. Nun macht die Bundesregierung Druck.
Passagiere am Eurowings-Schalter in Düsseldorf
Wegen Personalproblemen hat die Airline zahlreiche Verbindungen gestrichen – trotz vorgezahlter Tickets.
Bild: dpa
Düsseldorf Angesichts der hohen Zahl von Flugausfällen müssen Deutschlands Airlines um ihre gängige Buchungspraxis bangen. Bisher zahlen Passagiere ihre Tickets oft schon Wochen vor Abflug und wurden in den vergangenen Monaten immer wieder zu zinslosen und ungesicherten Kreditgebern der Airlines. Die Bundesregierung droht nun, den Zwang zur Vorkasse zu kippen.
Die Initiative kommt aus dem Haus von Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne). „Wenn die Fluggesellschaften bei berechtigten Ansprüchen der Fluggäste in den nächsten Monaten Erstattungen, Ausgleichszahlungen sowie Entschädigungen nicht schnell und unbürokratisch leisten“, sagte ein Sprecher, „wird man die Vorkasse-Praxis überprüfen müssen.“
Bereits im Juni hatte die Lufthansa rund 3000 Flüge gestrichen, Mitte Juli kamen 770 weitere hinzu. Zusätzlich fielen in der vergangenen Woche mehr als 1000 Starts und Landungen aus, weil das konzerneigene Bodenpersonal streikte. Nun droht auch noch ein Ausstand der Piloten.
Auch bei Easyjet gab es im Juni 106 Annullierungen, Ryanair sagte 30 Flüge in Deutschland ab. Unzählige Passagiere traten den Weg zum Flughafen vergeblich an, obwohl sie ihre Tickets lange im Voraus in voller Höhe bezahlt hatten.
Die massenhaften Flugabsagen haben die Position der Airlines wenig verbessert, was die Akzeptanz der Vorkasse betrifft. „Die aktuelle Situation entwickelt sich dynamisch“, berichtet ein Ministeriumssprecher. Man sei im Kontakt mit den Fluggesellschaften, Verbraucherschutzorganisationen und Fluggastrechteportalen, um die Entwicklung zu beobachten.
Am 15. Juli hatte Staatssekretärin Christiane Rohleder (Grüne) Vertreter verschiedener Fluggesellschaften zur Rede gestellt. Es ging um die Belastungen der Verbraucher durch die zahlreichen Flugausfälle und die Umsetzung der Fluggastrechte in dieser Situation.
„Wenn die Fluggesellschaften bei berechtigten Ansprüchen der Fluggäste in den nächsten Monaten Erstattungen, Ausgleichszahlungen sowie Entschädigungen nicht schnell und unbürokratisch leisten, (…) wird man die Vorkasse-Praxis überprüfen müssen.“ Sprecher Verbraucherschutzministerium
Matthias von Randow, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), sieht jedoch keinen Handlungsbedarf. Verbraucher würden auch Stadiontickets oder ÖPNV-Fahrkarten meist lange im Voraus erwerben, sagte er dem Handelsblatt. Es handele sich um eine „weltweite Praxis“ der Airlines.
Theoretisch könne man Flugtickets erst kurz vor dem Abflug erwerben und Insolvenzrisiken gebe es für Kunden ebenso in anderen Branchen. Sein stärkstes Argument: „Der Airlinekunde hat einen gesetzlichen Anspruch darauf, spätestens sieben Tage nach der Flugabsage sein Geld zurückzubekommen“, sagte von Randow. „Damit gibt es im Normalfall kein Problem.“
Doch vom Normalfall ist in diesen Wochen – wieder einmal – kaum noch die Rede. Schon nach dem Corona-bedingten Lockdown im März 2020 warteten Fluggäste teilweise bis zum Jahresende auf Rückzahlungen. Zunächst hatten ihnen die Airlines mit dem Segen der Bundesregierung sogar nur Gutscheine angeboten – bis die EU diese Praxis im Mai 2020 untersagte.
Massenhafte Zahlungsausfälle erlebten gebuchte Kunden auch Ende 2017 bei der Pleite von Air Berlin. Denn anders als bei Pauschalreisen sind einfache Flugtickets nicht gegen die Folgen einer Insolvenz geschützt. Zeitweise mussten sogar Lufthansa-Kunden um ihre Rückerstattungen bangen, als im Juni 2020 ein Großaktionär den Rettungsplan der Kranich-Airline zu blockieren drohte.
Auch in diesen Wochen läuft es mit den Erstattungen offenbar weitaus stockender, als es der BDL-Hauptgeschäftsführer darstellt. „Seit März/April, als die ersten Passagiere in den wohlverdienten Urlaub reisen wollten, begannen die Probleme“, berichtet Oskar de Felice, Leiter der Rechtsabteilung beim Flugrechteportal Flightright. „Im Juni und Juli sind die Zahlen dann regelrecht explodiert – aktuell melden sich täglich mehrere Tausend Passagiere.“
Das 140-köpfige Team von Flightright dient neben Organisationen wie EUflight oder Flugrecht.de als Anlaufstelle verhinderter Fluggäste, die Kostenrückerstattungen und Entschädigungszahlungen von Airlines verlangen. Am Erfolg der Klagen sind die Portale üblicherweise mit einer Provision beteiligt.
Deren Geschäft brummt in diesen Tagen. Im Vergleich zum Vorjahr liege eine Verzehnfachung der Anfragen vor, erklärt Oskar de Felice. Auch im Vergleich zum letzten Vor-Corona-Jahr 2019 gebe es doppelt so viele Anfragen entnervter Kunden.
Ausgerechnet Deutschlands größte Airline Lufthansa steht laut Flightright ganz oben auf der Liste der Unternehmen, die sich schwertun, Anspruchsforderungen nach Ticketrückerstattungen und Entschädigungen zu erfüllen. „Schon in der Coronazeit hat sich die Lufthansa trotz massiver staatlicher Unterstützung als eine vehemente Zahlungsverweigerin dargestellt“, berichtet Claudia Brosche, Fluggastrechtsexpertin bei Flightright.
Immer noch müsse man in der überwiegenden Zahl der Fälle gerichtlich gegen die Airline vorgehen, um sie zu einer Zahlung zu bringen. „Wenn man sich juristisch zur Wehr setzt, nutzt die Fluggesellschaft wirklich jeden Winkelzug aus, um die Auszahlung berechtigter Ticketrückerstattungen oder Ausgleichszahlungen an die Kunden hinauszuzögern“, sagt Brosche.
Ein weiteres Ärgernis sei, dass Lufthansa doppelt so häufig wie andere Airlines der Pflicht nicht nachkomme, ohne Aufpreis ein Ersatzticket zur Verfügung zu stellen. 2019 stellte Flightright nach eigenen Angaben bei jeder sechsten Anfrage von Lufthansa-Kunden fest, dass keine Ersatzbeförderung angeboten wurde, im Juli 2022 habe dies für jede dritte Lufthansa-Beschwerde gegolten. Verhinderte Fluggäste hätten sich so zu meist höheren Preisen selbst ein neues Ticket besorgen müssen.
Ein Konzernsprecher wirbt dagegen um Verständnis. Nicht alles liege in der Verantwortung der Lufthansa, erklärt er. Schließlich hätten auch die Bundespolizei, die Flughäfen, die Flugsicherung und Bodenverkehrsdienstleister ihre zugesagten Kapazitäten nicht bereitgestellt.
Der Luftverkehr sei ein komplexes System. „Wenn Lufträume aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges kurzfristig geschlossen werden oder wenn wir aufgrund von in Italien streikenden Fluglotsen Umwege fliegen müssen“, heißt es bei der Lufthansa, „dann führt das zu Störungen, die bei den Airlines sichtbar werden, aber nicht in ihrer Verantwortung liegen.“
Die unterschiedliche Handhabung der Ticket-Rückerstattung erklärt dies freilich nicht. Wie Lufthansa zählt Flightright auch Wizz Air, Iberia, Vueling, Turkish Airlines und British Airways zu den „Zahlungsverweigerern und -verschleppern“. Besser sehe die Bilanz insbesondere bei Easyjet und – mit Abstrichen – Ryanair aus.
Zudem zeigte sich dem Anbieter zufolge die Lufthansa-Tochter Eurowings überraschend kundenfreundlich. „Eurowings ist wieder bei ihrem sehr positiven Vor-Corona-Verhalten angekommen“, berichtet Fluggastrechtsexperte Oskar de Felice.
Die Differenzen begründet ein Konzernsprecher mit den verschiedenen Geschäftsmodellen. „Bei einem Punkt-zu-Punkt-Flieger wie bei Eurowings lassen sich die Ursachen für den Flugausfall einfacher ermitteln als bei Netzwerk-Carriern wie der Lufthansa, die mit mehreren Partner-Airlines Anschlussflüge organisieren“, sagte er. Hinzu komme: Werde ein Ticket über das Reisebüro gebucht – was bei Lufthansa häufiger vorkommt als bei den Low-Cost-Airlines –, sei die Agentur erstattungsberechtigt und nicht der Fluggast. Das mache die Abläufe komplizierter.
Dass Airlines wie Lufthansa nur bedingt für die Kapazitätsengpässe verantwortlich seien, wie es beim Branchenverband BDL heißt, sehen viele Reiseexperten kritisch. „Die hohe Nachfrage hätte die Lufthansa nicht überraschen dürfen“, sagt Flightright-Expertin Brosche, „da der Flugplan und die damit verbundene Passagierkapazität ja seit Monaten bekannt war.“ Es sei genug Zeit gewesen, um neues Personal einzustellen und zu schulen.
Diese Einschätzung teilt auch die Vorsitzende des Reisebüroverbands VUSR, Marija Linnhoff. „Schon am 6. April berichteten Urlaubsexperten im Tourismusausschuss des Bundestages von einem Buchungsansturm für den Sommer“, erklärt sie. Die Airlines hätten ihre Tickets in dem Wissen verkauft, dass ihre Kapazitäten nicht ausreichten. Zumindest für eine Übergangszeit sollten sie ihr Vorkasse-Modell deshalb aussetzen.
Für eine komplette Abschaffung der Praxis plädiert der Verbraucherzentrale-Bundesverband. „Kreditgebende Banken können viel besser als Kunden einschätzen, wie kreditwürdig ein Reiseanbieter oder eine Airline ist“, heißt es dort zur Begründung.
Sicherheitskontrolle am Hamburger Flughafen
Verbraucherschützer fordern, dass jede Zahlung grundsätzlich erst zum Zeitpunkt des Check-ins fällig werden sollte.
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Wie im Hotelgewerbe könnte gebuchten Fluggästen beim „No-Show“ der volle Preis berechnet werden, damit den Airlines für unerwartet leere Sitzplätze kein Schaden entstehe. Jede Zahlung sollte aber grundsätzlich erst zum Zeitpunkt des Check-ins fällig werden, fordern die Verbraucherschützer.
Die Zusatzkosten, falls Fluganbieter dazu weitere Bankkredite aufnehmen müssten, hat der VZBV gleichfalls berechnet. „Selbst bei einer vollständigen Überwälzung auf die deutschen Fluggäste“, heißt es in einem Positionspapier, „würden sich die Preise um nicht mehr als 3,3 Prozent erhöhen.“
Dass solche Buchungssysteme keineswegs unrealistisch sind, beweist im Übrigen die Lufthansa selbst. Mit ihrem hochpreisigen „Pay as you fly“-Tarif gestattet sie Geschäftsreisenden auf innereuropäischen Flügen, Tickets erst beim Abheben der Maschine zu bezahlen. In den Genuss kommen freilich nur Großkunden mit einem Firmenvertrag, die bereit sind, hohe Tarifklassen zu buchen und üppige Extragebühren zu zahlen.
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