Kilometerlange Warteschlangen, Polizeieinsätze, Tausende Flüge gestrichen: Reiseexperten und Opposition sehen eine Mitschuld am Chaos beim Bund.
Düsseldorf Zu spät, zu langsam, nicht umfangreich genug – die am Mittwoch erteilte Erlaubnis der Bundesregierung, in der Türkei 2000 Helfer gegen das Flughafenchaos in Deutschland anzuwerben, stößt in Wirtschaftskreisen wie auch in der Opposition auf wenig Zustimmung.
„Das Chaos hatte sich schon lange abgezeichnet“, bemängelt beispielsweise Anja Karliczek, tourismuspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, gegenüber dem Handelsblatt. „Warum brauchen dann die Bundesregierung und die beteiligten Ministerien über fünf Wochen, um die Genehmigung für das Anwerben der 2000 Mitarbeiter aus der Türkei auf den Weg zu bringen?“
Obwohl das Flugchaos ungebremst weiterläuft, wollen die Bodenverkehrsdienstleister nur etwa die Hälfte der angekündigten Aushilfskräfte aus der Türkei einstellen. Die Unternehmen hätten weniger als 1000 der 2000 möglichen Helfer angefordert, sagte der Chef des Arbeitgeberverbandes ABL, Thomas Richter.
Bei der konkreten Umsetzung der Aktion habe sich herausgestellt, dass sich die Firmen teils höhere Anforderungsprofile vorgestellt hätten. Dabei sei von Anfang an klar gewesen, dass es nur um „helfende Hände“ etwa bei der Gepäckverladung gehen könne, sagte Richter. Auch komme für manche Anbieter die Unterstützung zu spät. Er rechne zwar mit ersten Einsätzen bereits im August, aber der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport geht bislang von September aus. Die größeren Anbieter hätten ihren Bedarf angemeldet, hatte der Flughafenverband ADV mitgeteilt, ohne Zahlen für einzelne Standorte zu nennen.
Nicht dazu gehört der Dienstleister Wisag, der in Berlin, Frankfurt, Köln, Hamburg, Münster und Leipzig Bodenverkehrsdienste anbietet. „Wir sind organisatorisch und personell für unsere Kunden gut aufgestellt, sofern kurzfristige starke Erkrankungswellen ausbleiben“, sagte eine Sprecherin.
Die Verzögerung gehe nun zulasten der Millionen Touristen, die seit Wochen an Deutschlands Flughäfen stundenlang in Warteschlangen stehen, kritisierte CDU-Politikerin Karliczek. Die Ministerien hätten es offenbar versäumt, auf inländische Zeitarbeitsfirmen zuzugehen.
Tatsächlich hatte sich der Engpass bereits seit Langem angekündigt. 15.500 der 119.500 Beschäftigten im Airline- und Flughafenbetrieb hatten der Branche seit Pandemiebeginn den Rücken gekehrt, berichtete jetzt die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Antwort liegt dem Handelsblatt vor. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnet vor, dass auf Deutschlands Flughäfen 7200 Fachkräfte fehlen.
Gleichzeitig gebe es „keine Reserven mehr am Arbeitsmarkt“, um diese Lücken beim Luft- und Bodenpersonal zu füllen, heißt es beim IW. In Berlin/Brandenburg habe beispielsweise der US-Autobauer Tesla den Arbeitsmarkt leer gefegt, berichten Branchenexperten. Hinzu kämen aktuell enorm hohe Krankenstände bei den Airlines durch die Omikron-Variante von Corona.
Von einer Entspannung der Situation an Deutschlands Flughäfen, auf die viele Reiseveranstalter noch vor wenigen Tagen hofften, kann daher kaum die Rede sein. Auch am zweiten Wochenende der Sommerferien in Nordrhein-Westfalen strichen die Airlines wieder zahlreiche Flüge. Lufthansa kündigte darüber hinaus an, weitere 2200 Flüge im Sommer an den Drehkreuzen Frankfurt und München aus dem Programm zu nehmen, nachdem bereits 900 Starts und Landungen abgesagt worden waren. Auch am Donnerstag wurde eine nicht näher bezifferte Zahl an Flügen gestrichen. Die Konzerntochter Eurowings nahm ebenfalls mehrere Hundert Flüge im Sommer aus dem System, ebenso der Billigflieger Easyjet.
Der TV-Sender NTV berichtete am Köln-Bonner Flughafen von einer drei Kilometer langen Schlange vor dem Sicherheitscheck, die bis vor das Flughafengebäude reichte. In der Vorwoche hatten dort am Airport Fluggäste von Ryanair sogar die Polizei alarmiert. Den nach mehrfachen Flugverschiebungen im Flugzeug eingeschlossenen Passagieren hatte der Pilot mitgeteilt, dass der Start nach Mallorca nun endgültig abgesagt worden sei. Nur erreiche man leider niemanden bei der Bus-Bereitschaft, um die Urlauber zurück zum Flughafengebäude zu fahren.
Entsprechend verstörend klingt die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Dilemma. „Eine Ertüchtigung der Flughafeninfrastruktur ist zur Bewältigung der Passagierzahlen nicht erforderlich“, heißt es in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage.
Auch von Beschleunigungen bei der Zulassung von Sicherheitsmitarbeitern will man in Berlin nichts wissen. „Ausnahmen oder Erleichterungen bei der Einzelfallprüfung im Rahmen luftsicherheitsrechtlicher Zuverlässigkeitsüberprüfungen werden durch das BMI nicht in Betracht gezogen“, ist dem Schreiben zu entnehmen.
Gleichzeitig räumt die Bundesregierung mit der Annahme auf, dass fehlende finanzielle Anreize die Personalnot verursacht haben könnten. Das hatte vor wenigen Tagen Verdi-Vize und Lufthansa-Aufsichtsrätin Christine Behle behauptet. „Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lag das Bruttomedianentgelt von sozialversicherungspflichtig in Vollzeit Beschäftigten in der Luftverkehrsbranche zum Jahresende 2020 bei 4.413 Euro pro Monat“, heißt es in der Antwort auf die Kleine Anfrage. In der Sicherheitsabfertigung, erfuhr das Handelsblatt von dort Beschäftigten, liegt der Stundenlohn meist über 20 Euro.
Für den Engpass sorgen eher die hohen Anforderungen an die Tätigkeit, wie die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme schreibt. In vielen Einsatzbereichen an Flughäfen werde eine Qualifizierung zum Luftsicherheitsassistenten vorausgesetzt, die anspruchsvoll sei. „Von 20 Bewerbern schafften es bei uns zuletzt nur drei bis zu einer Einstellung“, berichtete dem Handelsblatt vor wenigen Tagen ein Mitarbeiter der Abfertigungsfirma Swissport am Flughafen Köln/Bonn.
Einen ganzen Maßnahmenkatalog gegen das Chaos auf Deutschlands Flughäfen stellte diese Woche der Reisebüroverband VUSR der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu. Das Outsourcing von Sicherheitskontrollen an Fremdfirmen müsse ein Ende finden, fordern dort die Reiseexperten. „Die hoheitliche Gesamtaufgabe sollte wieder Aufgabe der Bundespolizei werden.“
Auch an konkreten Verbesserungsvorschlägen mangelt es in dem Papier nicht. Fluggesellschaften, die nur wenige Flüge an Flughäfen anbieten, sollten nach Ansicht des Verbands künftig den Check-in über den Flughafenbetreiber absolvieren. Solche Schalter müssten permanent besetzt sein, um lange Warteschlagen vor dem Abflug zu verhindern.
Neben dem Online-Check-in müsse zudem verstärkt auf den Einsatz von Gepäckautomaten gesetzt werden – und zwar solchen, die von allen Airlines universell genutzt werden können. Für Passagiere ohne Handgepäck fordert der VUSR eine Fast Lane bei der Sicherheitskontrolle.
Ebenso soll der Druck auf die Airlines erhöht werden: „Fluggesellschaften müssen rechtlich verpflichtet werden, dass das Gepäck eine Stunde nach Landung im Besitz des Passagiers ist“, heißt es in dem Forderungskatalog. „Ansonsten wird die Fluggesellschaft verpflichtet, dieses nachzuliefern.“
All dies könnte schon bald auf die politische Agenda gelangen. „In dieser Woche haben wir einen Antrag eingebracht“, berichtet CDU-Tourismusexpertin Karliczek. Darin fordere man die Einberufung eines Reisesondergipfels unter Beteiligung der zuständigen Bundesminister bis spätestens September. „Es gilt, ein langfristig tragfähiges Konzept zu erarbeiten, um künftig einem solchen Chaos an den Flughäfen vorzubeugen“, sagt sie.
Mit Agenturmaterial.
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