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19.06.2020

11:07

Serie: Hoffnungsträger

Architekt Stefano Boeri und seine Vision einer neuen Stadt

Von: Regina Krieger

Der Italiener will nach Corona einen urbanen Neustart: weniger Autos, mehr Radwege und Grünflächen. Das Leben und Arbeiten werde sich ändern.

Mehr Umweltbewusstsein und Lebensqualität. Stefano Boeri Architetti

Stefano Boeri

Mehr Umweltbewusstsein und Lebensqualität.

Rom Genau 43 Bäume sind der erste Schritt für Stefano Boeri. Ein Baum für jeden der 43 Menschen, die im August 2018 starben, als in Genua die Autobahnbrücke einstürzte. Das Bild des Lastwagens, der hoch oben an der Kante steht, blieb als Sinnbild der Katastrophe im kollektiven Gedächtnis der Italiener. Bis Ende Juli sollen die Bäume stehen, der Startschuss für die Gedenkstätte.

Anschließend folgt die Umwandlung des Geländes, erklärt Boeri, der den Wettbewerb für die Gestaltung der gesamten Flächen unter der neu gebauten Brücke gewonnen hat. Ein biodiverser Park wird hier entstehen, dazu emissionsarme Gebäude. „Vorher war das mit viel Industrie und einer Eisenbahntrasse kein vorzeigbares Viertel von Genua.“

Der Clou seines Entwurfs ist der „cerchio rosso“, ein 1570 Meter langer Kreis aus rot gestrichenem Stahl, ein sechs Meter breiter Parcours für Spaziergänger und Radfahrer, der den Park wie ein Band umfasst und die Verbindung zur Bebauung daneben herstellt. Dazu kommt ein „Turm des Windes“, ebenfalls rot, die Zentrale für die Sonnenkollektoren.

Mit der Brücke von Renzo Piano und Boeris Park entsteht in Genua ein architektonisches und symbolträchtiges Wahrzeichen. Angefangen bei Premier Giuseppe Conte, lobt jeder Politiker Ästhetik, Umsetzung und Tempo des Projekts, das schon „Modell Genua“ getauft wurde. Die Botschaft für Italien: Wunder sind möglich im Land der überbordenden Bürokratie. Und: Es geht weiter, trotz der Rezession, trotz Corona.

„Das Besondere an diesem Projekt ist, dass endlich einmal in einem großen Infrastrukturbau auch die Umgebung einbezogen und geplant wurde“, sagt Boeri, „das fehlte bisher in Italien.“ Kühne und geradlinige Entwürfe, nachhaltig und grün, sind seit jeher das Markenzeichen des preisgekrönten 63-Jährigen. Er baut keine Solitäre, sondern bezieht immer das Umfeld ein.

In dieser Serie stellen wir Menschen vor, die uns Mut und Hoffnung machen. Deren Ideen und Konzepte über die Pandemie hinausgehen. Männer und Frauen, die die Krise als Chance begreifen – und damit eine Branche oder die ganze Gesellschaft nach vorn bringen können. Alle Beiträge unter: www.handelsblatt.com/hoffnungstraeger

Serie: Hoffnungsträger

In dieser Serie stellen wir Menschen vor, die uns Mut und Hoffnung machen. Deren Ideen und Konzepte über die Pandemie hinausgehen. Männer und Frauen, die die Krise als Chance begreifen – und damit eine Branche oder die ganze Gesellschaft nach vorn bringen können. Alle Beiträge unter: www.handelsblatt.com/hoffnungstraeger

International bekannt wurde er durch den „vertikalen Wald“ in Mailand – zwei Hochhäuser nahe der Unicredit-Zentrale, die terrassenförmig nach oben steigen und so begrünt sind, dass sie von Weitem wie ein Wald aussehen.

Das war 2014. Inzwischen entstehen ähnlich begrünte Häuser in Paris und Eindhoven. In Albaniens Hauptstadt Tirana wird Boeris Projekt für die Umwandlung eines zentralen Viertels in ein autofreies Miteinander von Häusern und Parks umgesetzt.

Wie beim Entwurf für Genua ist Boeri in seiner Arbeit schnell, effizient und vor allem positiv eingestellt. So baute er nach dem schweren Erdbeben in Mittelitalien im Sommer 2016 in Amatrice den „Polo del Gusto“, eine Piazza mit mehreren Restaurants und hölzernen Häusern.

Der Lockdown in Italien – mit mehr als zwei Monaten länger und einschneidender als andernorts – hat auch seine Arbeit verändert. Dienstreisen, etwa in sein Schanghaier Büro, fielen weg, auch die Begegnungen. „Aber ich war sehr aktiv, habe studiert, gelesen, Filme gesehen, Entwürfe gemacht. Denn jetzt ist die Zeit, unseren Lebensstil, unser Arbeiten, unsere Mobilität neu zu denken.“

Kühn und nachhaltig

Man könne die Zeit der Coronakrise auch als positiven Moment begreifen, meint Boeri. „Das neue Leben, das so schnell kam, mit Homeoffice, weniger Reisen und dem Einhalten der räumlichen Distanz, das uns noch lange begleiten wird, fördert neue Ideen: weniger Autos, eine andere Mobilität und mehr Grün, um die Emissionen fossiler Brennstoffe aufzufangen.“ Heutzutage seien Städte weltweit für mehr als 70 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich. „Jetzt ist die Zeit für eine neue Stadt.“

Und diese sieht Boeri konkret vor sich – im Dreiklang von Ökologie, Umwelt und Architektur. „Eine neue Stadt der kurzen Wege, in der in einem Radius von einem halben Kilometer alle notwendigen Dienste von Geschäften, Büros, Restaurants bis zu Schulen mit dem Fahrrad zu erreichen sind“, erklärt er.

Ich stelle mir ein Archipel von Stadtvierteln vor. Stefano Boeri (Architekt)

Man müsse die Funktion der Stadt überdenken, denn das Konzept des 19. Jahrhunderts mit großen Plätzen, zentralen Markthallen und Bahnhöfen, wo viele Menschen eng zusammentreffen, sei in Zeiten des „social distancing“ überholt. „Ich stelle mir ein Archipel von Stadtvierteln vor“, sagt er.

Und auch die Mobilität müsse neu gedacht werden. „Weniger Platz für private Autos, die die Luft verschmutzen, wenn nicht gleich große Fußgängerzonen wie in Barcelona oder eine Eintrittsgebühr wie in London, zumindest breitere Bürgersteige und weg mit den Parkplätzen. Die können zu Grünflächen werden, dazu ein besserer öffentlicher Nahverkehr und, wenn überhaupt, elektrisch betriebene Autos.“

Das sei in Mailand ebenso möglich wie in Hamburg oder Berlin. „Es gibt schon viele gute Beispiele, wir müssen jetzt den Mut haben, das voranzutreiben“, sagt er. Es gäbe nichts Schlimmeres, als in die alten Denkmuster zurückzufallen.

Es werde ein Nachdenken über alternative Wohnformen geben. In den Banken- und Versicherungstürmen in Mailand seien noch immer 70 Prozent im Homeoffice. „Künftig geht man zwei oder drei Tage die Woche ins Büro, das heißt, dass ich fünf Tage woanders leben kann, nicht teuer im Zentrum oder in einem Vorort.“

Unter Stefano Boeris Leitung entsteht ein architektonisches und symbolträchtiges Wahrzeichen. The Big Picture, Renovatio design

Parkprojekt in Genua

Unter Stefano Boeris Leitung entsteht ein architektonisches und symbolträchtiges Wahrzeichen.

Boeri glaubt an eine Aufwertung der kleinen, historischen Zentren – der „borghi“, wie sie in Italien genannt werden, der traditionellen Lebensform in Europa „mit kurzen Wegen“. Peripherien, Vororte und Schlafstätten für Pendler haben seiner Meinung nach ausgedient.

Andererseits litten viele kleine Orte unter Entvölkerung und Leerstand. Nötig sei eine enge Verbindung zwischen Städten und „borghi“, es dürfe dort auch keine Funklöcher geben, damit man arbeiten könne. „Das ist eine Herausforderung für ganz Europa.“

Dächer als Ort des Austauschs

Für das Leben in der Stadt sieht Boeri den Gebrauch der Dächer als neuen Ort der Kommunikation, „so, wie es einst die Höfe waren“. In Mailand und Rom sei das während des Lockdowns schon zu beobachten gewesen: Die Menschen trafen sich abends zum Essen und Plaudern auf den (flachen) Dächern.

Auf den Einwand, dass das im Süden eher vorstellbar sei, verweist er lachend auf den Klimawandel: „Wenn nicht auf dem Dach, dann wird sich doch in Zukunft viel Leben im Freien abspielen.“ Der Prozess sei nicht mehr aufzuhalten. Boeri denkt noch weiter: Drohnen könnten Waren und Einkäufe sicher auf die Dächer bringen.

Die Kombination von Umweltbewusstsein und Lebensqualität ist für Boeri unabdingbar für die zukünftige Architektur. „In dem Projekt in Genua sieht man die neue Lebenswelt wie in einem Brennglas“, sagt er. Der „rote Kreis“ sei ein Symbol nachhaltiger Mobilität und umschließe Gebäude und Parks. Das neue Viertel unter der Brücke sei der Weg in die Zukunft, sagt er – nicht nur in Italien.
Alle Beiträge unter: www.handelsblatt.com/hoffnungstraeger

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