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21.03.2023

11:17

Abgasskandal

Höchstrichterliche Niederlage für Mercedes gibt Diesel-Klägern Rückenwind

Von: Volker Votsmeier

Als erstes oberstes Gericht urteilt der Europäische Gerichtshof zuungunsten von Mercedes-Benz. Verbraucheranwälte erwarten eine neue Klagewelle, Mercedes gibt sich gelassen.

Der Bundesgerichtshof hatte Schadenersatzansprüche bisher abgelehnt. dpa

Mercedes beim Tüv

Der Bundesgerichtshof hatte Schadenersatzansprüche bisher abgelehnt.

Düsseldorf Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat einem Diesel-Besitzer im Streit mit Mercedes-Benz Recht gegeben. Danach muss der Autobauer einem Kunden grundsätzlich Schadenersatz zahlen, weil in seinem Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung bei der Abgasreinigung verbaut ist. Der Käufer habe einen Anspruch auf Entschädigung, wenn ihm durch die Abschalteinrichtung ein Nachteil entstanden sei, entschied der EuGH am Dienstag.

Diese Frage wollte das mit der Klage eines Mercedes-Fahrers befasste Landgericht Ravensburg von den Luxemburger Richtern geklärt haben. Das Verfahren wird nun nach der Grundsatzentscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Im Kern geht es nun darum, den möglichen Schaden für den Kunden zu beziffern. „Wir halten die im Rahmen von Dieselkundenklagen geltend gemachten Ansprüche gegen unser Unternehmen nach wie vor für unbegründet“, erklärte ein Sprecher von Mercedes-Benz auf Anfrage. Die betroffenen Fahrzeuge seien weitgehend wertstabil.

Der Sprecher sagte auch, dass das Unternehmen weiterhin davon ausgeht, dass im vorliegenden Fall keine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegt. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) habe das Fahrzeug nicht einmal zurückgerufen.

Das Statement kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der EuGH Mercedes eine schwere Niederlage zugefügt hat. Denn der Bundesgerichtshof (BGH) lehnte Schadenersatzansprüche bisher ab. Das Karlsruher Gericht hatte für solche Ansprüche vorausgesetzt, dass der Käufer vorsätzlich getäuscht wurde. Weil dem Autobauer aber allenfalls Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei, scheiterten die Kläger in aller Regel.

Erfolgsaussichten für Klagen deutlich verbessert

Das sieht der EuGH als erstes oberstes Gericht nun anders. Autobauer können auch dann haften, wenn sie ohne Betrugsabsicht einfach nur fahrlässig gehandelt hätten.

Wir halten die im Rahmen von Dieselkundenklagen geltend gemachten Ansprüche gegen unser Unternehmen nach wie vor für unbegründet. Sprecher von Mercedes-Benz

Verbraucheranwälte gehen davon aus, dass sich die Erfolgsaussichten für betroffene Diesel-Fahrer vor deutschen Richtern jetzt deutlich verbessert haben. „Durch die heutige Entscheidung wird die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen wegen des Abgasskandals so einfach wie nie zuvor“, sagt Claus Goldenstein, der einige tausend Kläger vertritt.

Der Bundesgerichtshof habe vergleichsweise hohe Hürden aufgestellt, erklärt Goldenstein. „Diese Hürden sind jetzt weg, weil es auf eine sittenwidrige oder vorsätzliche Schädigung nicht mehr ankommt.“

Weil das Urteil aus Luxemburg ausstand, hatten Gerichte aller Instanzen massenhaft Diesel-Verfahren auf Eis gelegt, bei denen es auf diese Frage ankommt. Allein beim BGH sind im Moment mehr als 1900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden anhängig.

Entscheidung auch für andere Hersteller relevant

Der „Dieselsenat“ des BGH hat für den 8. Mai bereits eine Verhandlung terminiert, in der er die sich „möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht“ erörtern will, um den unteren Instanzen möglichst schnell Leitlinien an die Hand zu geben. Denn mit dem EuGH-Urteil sind längst nicht alle Fragen geklärt. Offen ist zum Beispiel, wie viel Geld betroffenen Autokäufern zusteht.

Hintergrund des Verfahrens war eine Schadenersatzklage aus Deutschland gegen Mercedes-Benz wegen eines sogenannten Thermofensters. Diese sind Teil der Motorensteuerung, die bei kühleren Temperaturen die Abgasreinigung drosseln.

Die Autohersteller argumentieren, Thermofenster seien notwendig, um den Motor zu schützen. „Ein Scheinargument“, sagt Thorsten Krause von der Kanzlei KAP, die etliche Diesel-Kläger vertritt. „Thermofenster waren nicht unbedingt notwendig, sondern wohl nur die schnellste und günstigste Alternative in der Entwicklung“, sagt Krause.

Auch Umweltorganisationen sehen darin ein Instrument, das dabei hilft, die Emissionen von Autos unter Testbedingungen geringer erscheinen zu lassen, als sie es im realen Straßenverkehr sind. Die Kritiker des Thermofensters sehen sich durch die EuGH-Entscheidung nun bestätigt. „Alle temperaturgesteuerten Abschalteinrichtungen, die bei normalen Betriebsbedingungen aktiviert werden, sind damit unzulässig“, sagt Krause.

Durch die heutige Entscheidung wird die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen wegen des Abgasskandals so einfach wie nie zuvor. Claus Goldenstein, Verbraucheranwalt

Thermofenster wurden auch von anderen Herstellern standardmäßig eingesetzt. Da sich das EuGH-Urteil auf unzulässige Abschalteinrichtungen allgemein bezieht, könnte es auch auf andere Funktionalitäten in der Abgastechnik von Diesel-Autos übertragbar sein, die derzeit von Gerichten unter die Lupe genommen werden.

Jüngst hatte die Deutsche Umwelthilfe wegen des Thermofensters das KBA verklagt. Die Behörde hatte Volkswagen 2016 erlaubt, die manipulierten Dieselfahrzeuge wieder auf die Straßen zu lassen – obwohl weiterhin illegale Abschalteinrichtungen wie das Thermofenster vorhanden waren. Die Lobbyisten wollten das nicht hinnehmen – und siegten in erster Instanz vor dem schleswig-holsteinischen Verwaltungsgericht.

Mit Agenturmaterial

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