Niemand im Conti-Aufsichtsrat weiß mehr als Wolfgang Reitzle, sagt Reitzle. Nur bei der Dieselaffäre offenbart der Chefkontrolleur Erinnerungslücken.
Wolfgang Reitzle
Der Aufsichtsratsvorsitzende von Continental ist stets gut über die Vorgänge beim Zulieferer informiert. In der Dieselaffäre hat er unerklärliche Erinnerungslücken.
Bild: Linde AG
Düsseldorf Wolfgang Reitzle konnte die Zahl erst gar nicht fassen. Bei seiner Zeugenaussage bei der Staatsanwaltschaft Hannover am 1. Juni 2021 informierte ihn Oberstaatsanwalt Malte Rabe von Kühlewein über die Summe, die Continental in der Dieselaffäre möglicherweise zahlen müsse: 250 Millionen Euro.
Reitzle empfand das als Wahnsinn. Eben noch hatte der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende erklärt, wie überschaubar das Risiko für Continental wäre. Es betreffe schließlich nur die Gewinne in der Motorensteuerung, meinte Reitzle. Die seien doch nicht so hoch.
Oberstaatsanwalt Rabe von Kühlewein klärte Reitzle auf. In einem Strafverfahren könne ein sogenannter Abschöpfungsbetrag festgelegt werden. Der bemesse sich am Umsatz, den Continental mit den Motorensteuerungsgeräten für Volkswagen erzielte.
Reitzle wunderte sich, dass tatsächlich der Umsatz maßgeblich sei. Strafrechtlich gehe das, antwortete der Oberstaatsanwalt. Reitzle konnte es kaum glauben, doch der Oberstaatsanwalt wiederholte, dass es strafrechtlich möglich sei. Reitzle fehlten beinahe die Worte. Später fragte er noch mal, ob die 250 Millionen Euro wirklich die mögliche Strafsumme sei.
Wolfgang Reitzle macht keine gute Figur in der Dieselaffäre von Continental. Jahrelang lieferte der Hannoveraner Konzern Volkswagen Teile einer Software für die Steuerung von Dieselmotoren. Volkswagen manipulierte damit Millionen von Motoren so, dass sie im Straßenverkehr mehr Abgase ausstießen als erlaubt.
Continental
Mitarbeiter des Zulieferers hatten Kenntnis über die Diesel-Manipulationen von Volkswagen.
Bild: dpa
2021 hatte die Affäre Volkswagen schon mehr als 30 Milliarden Euro gekostet. Reitzle hatte aber keine Ahnung, wie hoch das Risiko für Continental sein könnte. Er wusste nicht einmal, wie man es ausrechnete.
Es war nicht sein einziger Fehler. Dem Handelsblatt liegt das komplette, 87 Seiten lange Zeugenvernehmungsprotokoll der Staatsanwaltschaft Hannover vom 1. Juni 2021 vor. Reitzle wirkt darin mal überfordert, mal gedächtnisschwach.
Jahrelang hatte Reitzle so getan, als bestehe für Continental in der Dieselaffäre kaum Gefahr. Nun zeigen interne Dokumente, dass der Aufsichtsratsvorsitzende schon 2016 über mögliche Straftaten gegen Conti-Mitarbeiter informiert wurde. Reitzle gerät in Erklärungsnot.
Dabei galt er lange Zeit als unantastbar. Das „Manager Magazin“ nannte Reitzle einmal den Leonardo DiCaprio der deutschen Wirtschaft. Wann immer eine wichtige Rolle zu besetzen sei, falle sein Name. Reitzle selbst sah sich auch bei Continental in einer Sonderrolle. Der Staatsanwaltschaft sagte er, es gäbe niemanden, der mehr wisse als er.
Ungefragt informierte Reitzle die Staatsanwaltschaft, mit wem sie es hier zu tun hatte: Es sei von seinen Eltern zu besonderer Korrektheit erzogen worden. Er habe in seinem Leben noch keinen Unfall mit dem Auto gehabt, obwohl er besonders viel und intensiv Auto gefahren sei, vor allem beruflich.
Reitzle habe sich jedes Jahr auf dem Nürburgring von Rennfahrern trainieren lassen. Aber: nie ein Unfall, nicht einmal ein Punkt in Flensburg. Er habe auch noch nie eine Steuerprüfung gehabt. Er glaube fest an den Grundsatz, dass dauerhafter Erfolg nur mit korrektem Verhalten möglich sei.
Die Staatsanwaltschaft mag bei dieser Vorrede eine hohe Erwartung an den Zeugen Reitzle gehabt haben. Sie wurde enttäuscht.
Ob Reitzle das Projekt Lupus etwas sage, fragte ihn Oberstaatsanwalt Malte Rabe von Kühlewein. Reitzle hatte Schwierigkeiten. Er habe von dem Thema vor einiger Zeit im Zusammenhang mit einer Hausdurchsuchung gehört, meinte der Aufsichtsratschef. Rabe von Kühlewein antwortete, die Untersuchung der Dieselthematik sei schon 2015/16 unter Lupus gelaufen.
Reitzle erkundigte sich nochmals, ob die Untersuchung schon damals Lupus geheißen habe. Ja, antwortete der Oberstaatsanwalt. Der Aufsichtsrat war nicht auf der Höhe. An den Begriff Lupus habe er keine Erinnerung. Er wisse nicht, ob es dazu irgendeine offizielle Präsentation im Aufsichtsrat gab.
Dem Handelsblatt liegt eine Präsentation vor. „Projekt Lupus. Zwischenbericht über die vorläufigen Ergebnisse der internen Untersuchung für die Sitzung des Aufsichtsrats der Continental AG im April 2016“ steht darüber. Sie enthält nicht nur Ausführungen zu zivilrechtlichen Fragen für Conti, sondern auch zu möglichen Strafverfahren.
Der Beginn der Dieselaffäre liegt jetzt fast sieben Jahre zurück. Wer Reitzle zuhörte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen könnten auch Conti erreichen.
„Nichts, aber auch gar nichts“ sei gefunden worden, was auf die „konspirative Mitwirkung von Mitarbeitern der Continental AG an der Konfiguration der fragwürdigen Software hindeutet“, sagte Reitzle dem Handelsblatt noch im Dezember 2021. Das habe ihm der Conti-Vorstand mehrfach versichert.
„Konspirative Mitwirkung“ mag eine Definitionsfrage sein. Sicher ist: Reitzle wurde bereits vor sechs Jahren darüber informiert, dass Mitarbeiter von Conti Ziel der Staatsanwaltschaft sein konnten. Dies zeigt das Protokoll der Sitzung des Prüfungsausschusses des Conti-Aufsichtsrats vom 2. Mai 2016.
Juristen des Autozulieferers erläuterten, was man beim Projekt Lupus alles gefunden hatte. Conti war an der Entwicklung der Software beteiligt, die Volkswagen zur Manipulation der Dieselmotoren nutzte. Als die externen Anwälte die Mitarbeiter von Conti dazu befragten, hatten sie den Eindruck, manche von ihnen würden Wissen zurückhalten, um sich nicht selbst zu belasten.
Die Conti-Führung veranlasste daraufhin eine sogenannte „Amnestie-Regelung“. Mitarbeiter, die sich bei ihren Aussagen selbst belasteten, sollten dadurch keinen Schaden haben. Mit dieser Garantie machten einige den Mund auf.
„Jedenfalls zwei Mitarbeiter von Continental auf unterer Hierarchiestufe“, so berichtete die Kanzlei Noerr, „haben die Funktionsweise des Hypermodes“ spätestens seit dem Jahr 2008 verstanden. Die besagten zwei Mitarbeiter von Continental haben im Dezember 2008, mithin vor der Serienreife, festgestellt, dass die Abgasgrenzwerte sowohl im „Normal“-Hypermode als auch im „Noise“-Hypermode überschritten werden. Ihr damaliger Vorgesetzter hat diesen Befund an Volkswagen weitergeleitet, selbst aber im Gespräch nachhaltig bestritten, die Funktionsweise des Hypermodes verstanden zu haben.“
Continental-Abspaltung Vitesco
Reitzle bezichtigt Vitescos Anwalt Alfred Dierlamm, im Hintergrund Stimmung gegen ihn zu machen.
Bild: Vitesco
Auf dieser Grundlage, so die Anwaltsmeinung, könne „nicht ausgeschlossen werden, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig (oder eine andere Staatsanwaltschaft) in Bezug auf die betreffenden Mitarbeiter von Continental ein Ermittlungsverfahren einleiten könnte“.
Reitzle sieht sich trotzdem ohne Schuld. Zwar sei er am 2. Mai 2016 über den Wissensstand zweier Mitarbeiter auf unterer Hierarchieebene informiert worden, antwortete Reitzle dem Handelsblatt auf Anfrage. Er gab dies aber erst zu, als er mit dem Sitzungsprotokoll konfrontiert wurde.
Zuvor verneinte Reitzle jede Kenntnis. Heute versucht er, einen anderen Aspekt hervorzuheben. So sei er auch darüber informiert worden, dass sich „hieraus nach Auffassung von Noerr keine rechtlichen Risiken für das Unternehmen ergeben“. Dass Noerr über mögliche Strafverfahren gegen die Mitarbeiter informierte, kommentierte Reitzle nicht.
Kümmerte sich Reitzle nicht genug? Diese Frage beschäftigte auch Staatsanwalt Rabe von Kühlewein. Ob der Aufsichtsratsvorsitzende den Untersuchungsbericht der Kanzlei Noerr zur Dieselthematik eigentlich selbst gelesen habe, fragte ihn der Ermittler. Die Antwort des Aufsichtsratsvorsitzenden: Nein.
Die Untersuchung zur Klärung, was der größte Skandal in der deutschen Automobilbranche für Conti bedeutete, sei nur an den Vorstandschef Elmar Degenhart und den Chefjuristen gegangen, sagte Reitzle. Das wunderte den Ermittler.
Reitzle habe doch vorhin gesagt, dass er den Bericht selbst initiierte, sagte Oberstaatsanwalt Rabe von Kühlewein. Dann sei natürlich zu fragen, warum Reitzle sich den Bericht nicht vorlegen ließ.
Weil er sich absolut auf Degenhart verlassen habe, antwortete Reitzle. Er habe einfach nicht geglaubt, dass er den Bericht selbst lesen muss, meinte der Aufsichtsratschef. Diese Idee sei ihm nicht in den Sinn gekommen.
Außerdem, sagte Reitzle, habe ihm ja auch der Chefjurist bestätigt, dass für Conti in der Dieselaffäre keine Gefahr bestünde. Der Mann sei für ihn immer korrekt gewesen, immer juristisch präzise. Er habe nie einen Anlass gehabt, an dessen Worten zu zweifeln.
Dabei war das Zweifeln eigentlich sein Job. Im Juni 2016 erfuhr Reitzle, dass zwei Mitarbeiter von Conti von der Betrugssoftware bei Volkswagen wussten. Im September 2016 erhielten die Aufsichtsräte die Auskunft, dass es schon vier Mitarbeiter waren.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte weiter, im Juni 2020 durchsuchte sie die Wohnung von zwölf Conti-Mitarbeitern. Im Juni 2021 sagte Oberstaatsanwaltschaft Rabe von Kühlewein dem Zeugen Reitzle, Continental sei in den größten Industrieskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte verwickelt.
Reitzle war geschockt. Er habe bis vorhin nie eine entsprechende Information im Aufsichtsrat bekommen, die darauf hindeuten könnte.
Die Staatsanwaltschaft nahm Reitzles Mangelwissen zu Protokoll. Reitzle wirkt seitdem gereizt. Finanzchef Wolfgang Schäfer, der Chefjurist und die Compliance-Chefin hätten ihm wichtige Informationen vorenthalten, hat der Aufsichtsratschef erklärt. Inzwischen haben alle drei das Unternehmen verlassen.
Alle drei gehören inzwischen zu den Beschuldigten der Staatsanwaltschaft, außerdem der langjährige Vorstandschef Elmar Degenhart, Ex-Powertrain-Vorstand José Avila und rund 60 aktuelle und ehemalige Mitarbeiter von Conti.
Und Reitzle? Die Arbeitnehmerschaft von Conti kritisiert ihn schon als Aufsichtsrat, der nicht beaufsichtigte. Reitzle keilt zurück. Als das Handelsblatt ihm Fragen zu seiner mangelhaften Erinnerung stellte, bezichtigte er den renommierten Anwalt Alfred Dierlamm, im Hintergrund als Puppenspieler zu agieren.
Dierlamm vertritt Vitesco, die ehemalige Antriebseinheit von Continental. Sie ist inzwischen vom Konzern abgespalten, muss aber laut Vertrag für mögliche Bußgelder im Zusammenhang mit den Dieselermittlungen aufkommen. Dagegen regt sich Widerstand.
Die Aussicht, Conti müsse doch noch für den Dieselskandal zahlen, bringt die Manager aus Hannover in Rage. Eigentlich war ausgemacht, dass Continental und Vitesco in der Dieselaffäre im Gleichschritt laufen. Doch Ende März 2022 setzte Continental die Kooperation aus. Es zeichnet sich ein hässlicher Streit darüber ab, wer die Zeche zahlen muss.
Manche Beobachter sehen in Reitzle einen Verantwortlichen für die Eskalation. Ihm zahlte Conti seit Ausbruch der Dieselaffäre über 3,6 Millionen Euro. Ob Reitzle sein Geld verdient hat, müssen die Aktionäre entscheiden. Die nächste Aufsichtsratssitzung ist am Donnerstag.
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