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30.10.2019

17:09

Chemie- und Pharmakonzern

42.700 Klagen: Bayer-Chef fährt eine Doppelstrategie bei Glyphosat

Von: Bert Fröndhoff, Katharina Kort

Operativ läuft es gut für die Bayer AG. Doch alle Augen richten sich weiter auf die Glyphosat-Klagen: CEO Baumann muss taktieren. Ein Vergleich scheint möglich.

Eine grundsätzliche Einigung bei Glyphosat halten Beteiligte auch nach dem massiven Anstieg der Klägerzahl für weiterhin möglich. AP

Werner Baumann

Eine grundsätzliche Einigung bei Glyphosat halten Beteiligte auch nach dem massiven Anstieg der Klägerzahl für weiterhin möglich.

Düsseldorf, New York Werner Baumann klang wie gewohnt gelassen und wehrhaft, als er am Mittwoch über die Klageflut gegen Bayer sprach. Die neue Zahl der Klagen in den Verfahren um den Unkrautvernichter Glyphosat sage nichts darüber aus, ob diese auch begründet seien. Und ohnehin: Bayer werde sich gegen alle Vorwürfe entschieden zur Wehr setzen, unterstrich der CEO des Leverkusener Konzerns.

Zwanzig Minuten lang hatte er in der Telefonkonferenz zunächst die operativen Erfolge von Bayer im dritten Quartal gerühmt. Hörbar zufrieden unterstrich Baumann, dass Bayer die selbst gesteckten Ziele für dieses Jahr erreichen wird: 43,5 Milliarden Euro Umsatz und 11,5 Milliarden Euro bereinigter Gewinn sollen es am Jahresende sein.

Vierzig weitere Minuten musste Baumann dann aber zu Fragen Stellung nehmen, die sich fast ausschließlich auf ein Thema und eine Zahl richteten: 42.700 Klagen sind mittlerweile an US-Gerichten wegen der angeblichen Krebsgefahr durch Glyphosat anhängig. Das ist das Erbe, das Monsanto und sein Unkrautvernichtungsmittel Roundup Bayer im Zuge der Übernahme eingebrockt hat.

Die Dimensionen einer solchen Klagewelle sind groß: Noch nie hat Bayer in einem amerikanischen Rechtsverfahren einer solchen Front gegenüber gestanden. Beim aufsehenerregenden Rückzug des Blutfettsenkers Lipobay im Jahr 2001 lagen mehr als 11.000 Klagen vor. Und in dem im vergangenen Jahr beigelegten Streit um den Gerinnungshemmer Xarelto sah sich Bayer 25.000 Klagen ausgesetzt.

Glyphosat entwickelt sich zudem zu einem der größten Fälle in der Geschichte des amerikanischen Produkthaftungsrechts überhaupt. „Jetzt wird das Niveau von Fällen wie den Tabakklagen und des Schlankheitsmittel Fen-phen erreicht“, sagt Steve Tapia, Rechtsprofessor an Uni Seattle.

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Mit diesen spektakulären Verfahren möchte sich Bayer lieber nicht in einer Reihe sehen, denn sie endeten mit Zahlungen in zweistelliger Milliardenhöhe. Rund 50.000 Klagen lagen 2005 gegen das frühere Pharmaunternehmen Wyeth wegen Gesundheitsgefahren durch die Schlankheitspille Fen-phen vor. Unterm Strich musste der Konzern mehr als 20 Milliarden Dollar zur Beilegung des Rechtsstreits zurückstellen. Wyteh ging daran nicht zugrunde, wurde aber später aufgekauft

Investoren fordern Einigung

Eine solche Summe halten manche Analysten auch im Fall Glyphopsat für möglich – allerdings variieren die Schätzungen zwischen fünf und 20 Milliarden Dollar. Baumann will sich zu solchen Summen nicht äußern.

Er muss ohnehin geschickt und vorsichtig agieren, denn in der gegenwärtigen Phase ist eine Doppelstrategie gefragt: Bayer muss zum einen seinen Standpunkt, dass Glyphosat bei sachgemäßem Gebrauch ungefährlich ist, weiter mit voller Kraft öffentlich und vor Gericht verteidigen. Alles andere würde die Rechtsposition der Leverkusener schwächen.

Zugleich muss Bayer aber ernsthaft die Möglichkeit einer außergerichtlichen Einigung vorantreiben. Denn zum einen ist das Mediationsverfahren zwischen dem Konzern und den Klägeranwälten gerichtlich angeordnet. Zum anderen machen die Investoren Druck – allen voran der Hedgefonds Elliott. Der fordert von Bayer eine „akzeptable Einigung binnen weniger Monate“, wie es in Finanzkreisen heißt.

Die dahinterliegende Rechnung ist einfach: Gelingt Bayer dies, dürfte der Aktienkurs – befreit vom Glyphosat-Ballast – deutlich zulegen. Analysten sehen Potenzial bis 90 Euro. Am Mittwoch notierte die Bayer-Aktie bei 67 Euro. Elliott könnte einen dicken Gewinn einstreichen.

Für Bayer wäre ein Vergleich zweischneidig: Der Konzern würde damit zwar nicht seine Schuld eingestehen. Doch es könnte sich der Eindruck verfestigen, dass das Management die rechtlichen Risiken der Monsanto-Übernahme unterschätzt hat. Auf der anderen Seite wäre es aber in Bayers Sinne, wenn die Belastung durch die Glyphosat-Verfahren auf einen Schlag vom Tisch wäre.

Eine grundsätzliche Einigung halten Beteiligte auch nach dem massiven Anstieg der Klägerzahl für weiterhin möglich. Kenneth Feinberg leitet als Mediations-Anwalt die Gespräche zwischen beiden Parteien. „Ich bezweifele, dass die hohe Zahl zusätzlicher Klagen einen Vergleich für Bayer deutlich schwieriger und deutlich teurer macht“ sagte er dem Handelsblatt.

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„Die entscheidende Frage ist doch: Wie viele der neuen Klagen sind überhaupt zulässig und geeignet für eine Entschädigung?“ Er spielt damit auf die Qualität der Klagen an und stützt die Sichtweise von Bayer-Chef Baumann. Auch die Experten von Bloomberg Intelligence, die Produkthaftungsfälle in den USA intensiv analysieren, gehen davon aus, dass die massiv gestiegene Zahl der Kläger nicht zu einer Ausweitung der erwartbaren Vergleichssumme führt.

Sie blieben am Mittwoch bei ihrer bisherigen Schätzung von acht bis zehn Milliarden Dollar. Komplexer macht es den Fall aber allemal. Er entspricht nicht einer Sammelklage, wie sie nach einem Flugzeugabsturz möglich ist. Dort wird in einem Vergleich jedes Opfer mit der gleichen Summe entschädigt. In einem Mass-Tort-Verfahren wie bei Glyphosat müssen Einzelfälle bewertet und Klassifizierungen vorgenommen werden, die unterschiedliche Entschädigungshöhen vorsehen.

Kriterien dabei sind etwa Alter, Ernsthaftigkeit der Erkrankung und nachgewiesener Einsatz des Monsanto-Mittels Roundup. Entscheidend für Bayer ist: Ein Vergleich muss dem Konzern eine möglichst weitgehende Sicherheit bringen, dass der Rechtskomplex ein für alle mal aus der Welt ist. „An diesen Idealzustand müssten wir ganz nah herankommen“, sagte er. Das ist schwierig zu erreichen.

Zwar verpflichten sich die Klägeranwälte im Anschluss, keine weiteren Klagen einzutreiben und keine Prozesse mehr anzustreben. Dennoch besteht die Gefahr, dass später weitere Klagen von Erkrankten auftauchen. Die Vergleichsgespräche laufen in New York hinter verschlossenen Türen. Nach außen aber lassen beide Parteien nach Möglichkeit ihre Muskeln spielen. Die Klägeranwälte tun dies mit dem Einwerben weiterer Klagen.

Gewinnwarnung ist ausgeblieben

Nach Angaben von Bayer haben sie allein im dritten Quartal rund 50 Millionen Euro in TV-Spots gesteckt. „Je mehr Zeit vergeht, umso mehr Lymphdrüsenkrebs-Diagnosen gibt es und umso mehr Menschen werden sich melden. Das ist doch ganz logisch“, kommentiert Emmitt Alexander von der Alexander Law Group. Aber auch Bayer hat noch Trümpfe in der Hand. Die Mediation verschafft dem Konzern etwas Zeit und Ruhe, weil alle zuletzt angesetzten Prozesse verschoben wurden.

Bayer muss sich damit vorerst nicht der Gefahr aussetzen, öffentlich angeprangert und von Laienjurys verurteilt zu werden. Für die Leverkusener sind die derzeit laufenden Berufungsverfahren der ersten drei Prozesse extrem wichtig. Fernab der Öffentlichkeit werden von professionellen Richtern die bisherigen Urteile überprüft. Kommen sie zu einer bayer-freundlicheren Entscheidung, wäre die Position des Konzerns auch gegenüber den Klägern schlagartig gestärkt.

Dabei könnte ausgerechnet die US-Umweltbehörde EPA eine entscheidende Rolle spielen. Sie stuft Glyphosat weiterhin als gefahrlos ein und hat im August eine bemerkenswerte Verordnung erlassen: Danach untersagt die EPA, dass Roundup und andere glyphosathaltige Mittel mit einem Warnhinweis zur Krebsgefahr versehen werden müssen.

Die Verordnung ist US-Bundesrecht, an dem sich auch die Bundesrichter orientieren müssen. Das könnte Bayer zugute kommen. Eine Entscheidung im ersten Berufungsverfahren erwarten die Leverkusener nun Anfang 2020, wie Baumann sagte. Dem Vorstandschef kommt zugute, dass er Bayer in einer guten operativen Verfassung präsentieren kann. Eine noch im Juli von Analysten befürchtete Gewinnwarnung blieb aus.

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Stattdessen entwickelten sich das Agrargeschäft und die Medizinsparten im dritten Quartal positiv. Bayer profitierte im Verkauf von Pflanzenschutzmitteln und Saatgut von dem boomenden lateinamerikanischen Markt, auf dem Monsanto eine starke Position hat. Zugleich kommt Bayer laut Baumann bei der Integration der US-Firma schneller voran als geplant. 2019 würden bereits Kostensynergien von 600 Millionen Euro erzielt.

Die Öffentlichkeit wird sich bei Bayer aber weiterhin auf die Entwicklung der Causa Glyphosat fokussieren. An deren Ende, so erwarten Experten, wird ein wie auch immer gearteter Vergleich stehen. Nach einer Umfrage des Analysehauses Bernstein gehen drei Viertel der Investoren davon aus. Zudem hat der Konzern fast alle seiner Produkthaftungsfälle auf diese Art aus der Welt geschafft.

Mehr: Der Leverkusener Konzern muss dringend den Rechtsfall um den Unkrautvernichter Glyphosat lösen. Erst dann kann Bayer an der Börse wieder glänzen, kommentiert Bert Fröndhoff.

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