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15.09.2022

16:45

Dax-Konzern

Milliarden-Plan: Bayer will Pharma-Umsatz um 50 Prozent steigern – und hat vor allem eine Erkrankung im Visier

Von: Felix Holtermann, Bert Fröndhoff

Bayers Pharmasparte setzt voll auf die Verbindung von Gentherapie und Datenanalyse. Das Herz dieser Entwicklung soll bald auch in Deutschland schlagen.

Bayer-Forschung an Zellkulturen Bayer AG

Bayer-Forschung an Zellkulturen

Der Konzern investiert in moderne Zell- und Gentherapien.

Boston, Düsseldorf Die Aussicht ist erstklassig. Vom neuen US-Forschungszentrum von Bayer in Boston haben die Wissenschaftler einen fantastischen Blick über den Charles River hinweg auf die Stadt, ihre Backsteinhäuser, Wolkenkratzer und vergoldeten Kuppeln. In direkter Nachbarschaft befinden sich die Eliteuniversitäten MIT und Harvard. 100 Forscher von Bayer arbeiten hier an der Zukunft der Medizin.

BRIC hat der Pharmakonzern aus Leverkusen sein Zentrum genannt, „Bayer Science and Innovation Hub“. Rund 100 Millionen Dollar hat Bayer investiert. Es soll die Pharmasparte voranbringen, die mit zuletzt 19 Milliarden Euro Umsatz wichtigste Sparte neben der Agrarchemie.

Die Ziele der Leverkusener sind groß: 2030 soll die Pharmasparte von Bayer 30 Milliarden Dollar zum Umsatz beitragen, sagt Christine Roth, die seit 2022 die Bayer-Geschäftseinheit Onkologie und damit den Bereich Krebsmedizin leitet.

Das wäre nach heutigen Wechselkursen ein Plus von immerhin 50 Prozent. Erfolge in der Onkologie sollen entscheidend dazu beitragen. „Wir haben einen 25-prozentigen Anstieg der Krebsfälle innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre“, sagt Roth. Auch junge Menschen bekämen öfter Krebs, ohne dass man das medizinisch erklären könne. Die neue Bayer-Managerin will den Konzern zu einem der Top-Ten-Spieler in der Onkologie machen.

Zentral dafür ist Bayers Engagement in Boston. Die Stadt an der Ostküste und die umliegenden Regionen gelten als das Herz der amerikanischen Biotech-Industrie und Medizinforschung. Hunderte Start-ups, Forschungsinstitute und etablierte Pharmafirmen suchen hier nach bahnbrechenden neuen Therapien.

Bayer will von einer Krebs-Offensive der US-Regierung profitieren

Erst am Montag dieser Woche hat US-Präsident Joe Biden die Hauptstadt von Massachusetts besucht und eine Rede zu seiner „Moonshot Initiative“ gehalten. Er hat sich dem Kampf gegen Krebs verschrieben: Binnen 25 Jahren sollen die Krebsraten um mindestens 50 Prozent gesenkt werden. Biden weiß, wie wichtig dafür das Know-how aus Boston ist.

Boston imago images/Cavan Images

Blick auf Boston an der US-Ostküste:

Die Stadt gilt als Zentrum der amerikanischen Biotechszene.

Dieses Ökosystem mit seiner einzigartigen Mischung an Talenten will auch Bayer nutzen. Der Konzern setzt voll auf die sogenannte Biorevolution: die Verbindung von Künstlicher Intelligenz und Datenanalyse mit neuartigen medizinischen Ansätzen wie der Zell- und Gentherapie.

Das sind zwei junge Forschungsfelder, die große Fortschritte für die Medizin versprechen, etwa im Kampf gegen Muskelschwäche, Krebs und andere Erkrankungen. Die Idee: Körperzellen werden in Stammzellen rückverwandelt und wachsen dann beispielsweise zu Herzmuskelzellen heran. An diesen können neue Medikamente getestet werden. Die Vision ist, solche Zellen Patienten einzupflanzen und so beschädigte Zellen im Körper zu ersetzen.

Die Gentherapie wiederum will beispielsweise genetisch bedingte Erkrankungen durch die Korrektur fehlerhafter Gene bekämpfen. An solchen Therapien arbeiten viele der Top-Pharmakonzerne der Welt. Für alle gilt: Die neuen Ansätze sind vielversprechend, aber die Forschung ist hochriskant.

Start-up Bluerock spielt wichtige Rolle für die Bayer-Pläne

Im Zentrum steht für Bayer das Biotech-Start-up Bluerock, das der Konzern 2019 für rund 600 Millionen Dollar übernommen hat. Es gilt als Paradebeispiel für die eigene Strategie, erworbene Start-ups „auf Armlänge“ zu führen: Bayer hat sich bereits 2016 an Bluerock beteiligt. Als sich dessen Forschung als vielversprechend herausstellte, übernahm der Konzern die Firma ganz, integrierte das Start-up aber nicht in die eigene Organisation, sondern führt es als unabhängige Tochter.

„In der Gen- und Zelltherapie bauen wir eine ganze Plattform von Unternehmen auf.“ Bayer-Manager Patrick Bussfeld

Bluerock forscht an neuen Zelltherapieansätzen zur Behandlung unter anderem von Krebs und Parkinson. „Die Medizin wandelt sich dramatisch“, sagt Bluerock-Chef Seth Effenberg. „Und die Zusammenarbeit mit Bayer macht vieles leichter.“ So biete der Konzern Zugang zu einem weltweiten Netz an Forschern, aber auch an Know-how in der Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden und Gesundheitssystemen.

Bluerocks Projekte stecken noch in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung. Doch Bayer will hier langen Atem beweisen. „In der Gen- und Zelltherapie bauen wir eine ganze Plattform von Unternehmen auf“, sagt Patrick Bussfeld, bei den Leverkusenern zuständig für die Bluerock-Forschung.

Davon soll auch Berlin profitieren, einer der zentralen deutschen Standorte von Bayers Pharmadivision. Die Forschung im Stadtteil Wedding will Bayer ausbauen und zu einem „zweiten Boston“ machen. Bluerock hat bereits ein Büro in Berlin eröffnet.

„Deutschland fehlt das Ökosystem, das wir in den USA vorfinden“

Das ist ein ambitioniertes Ziel, wie auch Bayer-Chef Werner Baumann weiß. „Deutschland fehlt das Ökosystem, das wir in den USA vorfinden“, erklärt er. Brillante Wissenschaftler gebe es auch in der Bundesrepublik – aber das nötige Umfeld mit Wagniskapitalinvestoren und konkurrierenden Start-ups fehle. Zudem agiere die Regulierung deutlich weniger innovationsfreundlich, sagt Baumann.

Kurzfristig helfen die Visionen aus Boston und Berlin jedoch nicht. Die Pharmasparte steht unter Zeitdruck. Sie muss den Patentablauf bei wichtigen Medikamenten abfedern, allen voran bei den aktuellen Bestsellern, dem Gerinnungshemmer Xarelto und dem Augenmittel Eylea.

Bayer setzt auf eine Verlängerung der Patente, etwa durch neue Dosierungen. Zudem hat der Konzern aktuell mehrere vielversprechende Mittel zur Marktreife gebracht, die den Umsatzrückgang ab 2024 mildern und bremsen könnten. Um den Pharmaumsatz bis zum Ende des Jahrzehnts um 50 Prozent zu steigern, müssen aber jetzt aussichtsreiche junge Projekte in die Entwicklung.

Dass Bayer in der frühen und mittleren Entwicklungsphase Nachholbedarf hat, sieht selbst CEO Baumann so. Investments in vielversprechende Start-ups sollen Abhilfe schaffen. Ziele identifiziert Bayers Investmenteinheit Leaps, ein konzerneigener Risikokapitalgeber, der seit 2015 mehr als 1,5 Milliarden Dollar in über 50 Start-ups investiert hat. „Unser Zeithorizont endet nicht nach zehn Jahren“, erklärt Chef Jürgen Eckhardt. „Leaps bringt Unternehmen und Talente zusammen.“

Computerbild einer Krebszelle dpa

Computerbild einer Krebszelle

Die Erkrankungen an Krebs haben um ein Viertel zugenommen.

Eines der Talente ist Nabiha Saklayen, geboren in Saudi-Arabien und Tochter von Einwanderern aus Bangladesch. Die promovierte Physikerin ist laut dem US-Magazin Forbes eines der „30 unter 30“-Talente im Gesundheitswesen. Saklayen forscht an der Bearbeitung von Zellen mithilfe von Lasern und hat ein neues Verfahren zum Patent angemeldet. In ihre Firma Cellino hat auch Leaps investiert.

Cellino nutzt Machine-Learning-Ansätze, oft auch als Künstliche Intelligenz bezeichnet. „Wir trainieren Algorithmen darauf, geeignete Stammzellen zu identifizieren“, erklärt die Start-up-Chefin, also zum Beispiel solche, die nicht abnorm verändert und potenziell krebserregend sind.

Bisher sei das ein manueller Prozess, bei dem hochbezahlte Wissenschaftler die Zellen tagelang unter dem Mikroskop beobachten müssten. Nun könnten dies Bilderkennungsverfahren übernehmen, wie sie etwa auch in der autonomen Mobilität zum Einsatz kämen.

KI ist kein Allheilmittel in der Pharmaforschung

Hoffnungen in derlei neue Verfahren setzt auch Alex Burgin, Direktor am Broad Institute, einer Forschungseinrichtung der Universitäten MIT und Harvard, die Kooperationen mit zahlreichen Pharmakonzernen unterhält. Aktuell arbeiten sechs Bayer-Forscher im Labor mit. Das gemeinnützige Institut findet sich ganz in der Nähe des Bayer-Zentrums in Bostoner Stadtteil Cambridge. Geforscht wird unter anderem an Herzkrankheiten.

„Der Computer wird keine Medikamente entwickeln. Dafür braucht es Menschen. Und Zeit.“ Alex Burgin, Direktor am Broad Institute der Universitäten MIT und Harvard

„KI kann bei der Bilderkennung helfen und Forschung dadurch deutlich beschleunigen“, sagt Burgin. Die Technologie sei jedoch kein Allheilmittel. „Der Computer wird keine Medikamente entwickeln. Dafür braucht es Menschen. Und Zeit.“

Dass Bayer unter Ergebnisdruck steht, zeigt sich aber auch im Broad Institute. „Manchmal gibt es Konflikte“, sagt Direktor Burgin. „Wenn unsere gemeinsamen Forschungsteams neue Erkenntnisse haben, wollen wir diese möglichst schnell in einem Fachmagazin publizieren.“ Bayer wolle etwas anderes: das eigene geistige Eigentum schützen, um patentierte Medikamente auf den Markt zu bringen. „Hier reiben wir uns aneinander. Da müssen sich dann die Anwälte kümmern.“

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