Illegale Abschalteinrichtungen in Dieselfahrzeugen brauchen mehr als ein Software-Update, hat ein Verwaltungsgericht entschieden. Das könnte Folgen für VW, das KBA und laufende Klagen haben.
Diesel-Pkw von VW erhält Softwareupdate
Thermofenster kommen nicht nur bei Volkswagen, sondern in der gesamten Branche zum Einsatz.
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Düsseldorf Siebeneinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Dieselskandals sorgt das schleswig-holsteinische Verwaltungsgericht für Aufsehen. Die Richter haben entschieden, dass ein vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) freigegebenes Software-Update von Volkswagen unzulässig war.
Das KBA hatte VW 2016 erlaubt, die manipulierten Dieselfahrzeuge wieder auf die Straßen zu lassen – obwohl weiterhin illegale Abschalteinrichtungen wie das „Thermofenster“ vorhanden waren. Dadurch stoßen die Pkw außerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs, in dem die Technik zur Abgasreinigung uneingeschränkt läuft, mehr Stickoxide aus als erlaubt. Thermofenster kommen nicht nur bei Volkswagen, sondern in der gesamten Branche zum Einsatz.
Das Handelsblatt hat die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengestellt, die sich aus dem Urteil ergeben.
Im Kern hat sich das Gericht mit der Zulässigkeit von Thermofenstern bei Dieselautos befasst. Diese reduzieren bei nach Spezifikation zu niedrigen oder zu hohen Außentemperaturen die Abgasreinigung und erhöhen entsprechend den Schadstoffausstoß. So funktioniert die Abgasreinigung meist nur in einem bestimmten Temperaturintervall ohne Einschränkungen, im aktuellen VW-Fall zwischen zehn und 39 Grad. Volkswagen argumentiert, dass der Einsatz der Thermofenster zum Schutz der Motoren notwendig sei.
Vor dem Verwaltungsgericht in Schleswig ging es konkret um einen VW Golf. Ausgestattet war das Auto mit einem Dieselmotor des Typs EA 189. Das ist der berüchtigte Motor, mit dem der Dieselskandal am 19. September 2015 seinen Anfang nahm.
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Damals teilte die US-Umweltbehörde Epa mit, dass VW eine unzulässige Abschalteinrichtung verwendete. Damit wurde die Abgasreinigung abgeschaltet, sobald das Auto nicht mehr auf dem Prüfstand, sondern auf der Straße fuhr.
Weltweit waren rund elf Millionen Fahrzeuge betroffen. In Deutschland ordnete das KBA einen Rückruf an, akzeptierte jedoch ein Software-Update, das die Sache in Ordnung bringen sollte. Das Problem: Das KBA hatte VW damit 2016 erlaubt, dass die entsprechenden Dieselfahrzeuge wieder auf die Straßen durften – obwohl weiterhin ein Thermofenster vorhanden war.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) feiert die Entscheidung als großen Erfolg. „Es handelt sich um einen Präzedenzfall, denn er ist direkt übertragbar auf alle anderen Fahrzeuge mit temperaturgesteuerten Abschalteinrichtungen“, sagte Remo Klinger dem Handelsblatt. Der Anwalt vertritt die DUH regelmäßig vor Gericht.
Aus Sicht der Justiz sei entscheidend, welche technischen Möglichkeiten es zur Reinigung der Abgase gegeben habe, als die Typgenehmigung erteilt wurde. Und diese Technik gab es, denn die Stickoxide hätten auch vor 2012 schon mit dem Harnstoff Adblue als Zusatz neutralisiert werden können.
Zusatzstoff Adblue
Mit dieser Lösung könnte der Diesel sauberer werden – für die Hersteller ist das aber teuer.
Bild: imago images/Manfred Segerer
Allerdings war eine solche Lösung vielen Herstellern zu teuer. Dass die Autohersteller den Einsatz des Thermofensters mit dem Motorenschutz zu rechtfertigen versuchen, lassen Klinger und die DUH nicht gelten.
Das KBA gibt auf Nachfrage an, man habe die von VW verwendeten Thermofenster aus Gründen des Motorschutzes und der Betriebssicherheit der Fahrzeuge insbesondere bei niedrigen Temperaturen für zulässig befunden. Das Amt wolle die Entscheidung des Gerichts prüfen und dann über das weitere Verfahren entscheiden.
Den Autokonzern hat das Urteil überrascht. In Wolfsburg ist man davon ausgegangen, dass das Gericht die Thermofenster nicht infrage stellt. Deshalb gilt es als sehr wahrscheinlich, dass der Autohersteller in die nächsthöhere Instanz gehen wird. Offiziell heißt es aus Wolfsburg zum Urteil, dass man zunächst die schriftliche Begründung abwarten werde. Danach wolle VW „über weitere Schritte entscheiden“.
Die Wolfsburger betonen, dass vom aktuellen Schleswiger Urteilsspruch nur knapp 90.000 Golf-Exemplare aus den Jahren 2008 und 2009 betroffen sind. In ganz Europa waren rund 8,5 Millionen Dieselautos von den Abgasmanipulationen betroffen, davon entfällt auf Deutschland ein Anteil von etwa 2,5 Millionen.
Bei später produzierten Fahrzeugen sind die Thermofenster laut dem Konzern kleiner geworden, moderne Dieselautos erfüllen demnach die Abgasnormen auch bei Frost. Die DUH wird sich damit aber kaum zufriedengeben.
Das ist offen. Die DUH will vor dem Verwaltungsgericht in Schleswig noch weitere Klagen gegen Volkswagen und auch gegen andere Autohersteller anstrengen. Im aktuellen Streitfall bei VW handelt es sich um Autos, die im Durchschnitt etwa 15 Jahre alt sind.
Ein größerer Teil dieser Fahrzeuge dürfte nicht mehr in Betrieb sein oder als Gebrauchtwagen in andere Länder verkauft worden sein. Aus Sicht von Volkswagen ist eine Nachrüstung der älteren Modelle aus technischen Gründen nur schwer möglich. Doch die juristischen Attacken werden sich auch gegen modernere Fahrzeuge richten, in denen Thermofenster im Einsatz sind.
Aus Sicht der DUH ist es an der Zeit, nun alle Dieselfahrzeuge mit Thermofenstern zurückzurufen. Die Autobauer müssten dazu verpflichtet werden, keine Thermofenster mehr zu verwenden. Andernfalls sei es notwendig, die Pkw aus dem Verkehr zu ziehen und die Kunden zu entschädigen.
Software-Update eines VW Golfs
Volkswagen geht davon aus, dass ein Großteil der vom Gerichtsentscheid betroffenen Fahrzeuge nicht mehr in Betrieb oder in Europa unterwegs ist.
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Die DUH kündigte bereits an, gegen alle weiteren Diesel der Abgasstufen Euro 5, 6a und 6b von BMW, Mercedes-Benz, Volkswagen, Audi, Porsche sowie der ausländischen Dieselhersteller etwa aus Italien und Frankreich vorzugehen. Bereits jetzt sind nach Angaben der DUH Klagen gegen 118 Freigabebescheide von Autos diverser Hersteller anhängig.
BMW äußerte sich nicht zu dem Urteil. Grundsätzlich sei für BMW ein „bewusstes, gezieltes Vorgehen zur unzulässigen Manipulation von Abgasemissionen nicht akzeptabel“. Auch ein Sprecher von Mercedes-Benz wollte keinen Kommentar abgeben.
Das Verwaltungsgericht ließ sowohl die Berufung als auch die direkte Revision zum Bundesverwaltungsgericht zu. Prozessbeobachter rechnen damit, dass das KBA und auch VW gegen das Urteil vorgehen. Damit würde bis zu einer möglichen Rechtskraft noch viel Zeit vergehen.
Schon kurzfristig steht aber eine weitere Entscheidung an, die Orientierung bietet. Am 21. März entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einer Klage eines Mercedes-Kunden, ob Fahrzeughalter schon dann Schadenersatzansprüche wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung haben, wenn der Fahrzeughersteller nur fahrlässig gehandelt hat.
Der EuGH-Generalanwalt machte in seinem Schlussantrag vom Sommer 2022 deutlich, dass er Fahrlässigkeit für ausreichend hält, um Schadenersatzansprüche zu begründen. Oft folgt das Gericht den Ausführungen seines Generalanwalts.
Unmittelbar müssen Fahrer von Dieselautos mit Thermofenstern nicht aktiv werden. Denn mit dem Richterspruch ist für Kunden weder die Pflicht verbunden, die betroffenen Autos nachzurüsten, noch drohen in naher Zukunft Stilllegungen.
Da es bis zur Rechtskraft des Urteils noch einige Zeit dauern kann, sollten Kunden die weitere Entwicklung genau verfolgen. Das gilt auch im Hinblick auf mögliche Verjährungsfristen eventueller Schadenersatzforderungen. Diese laufen bis maximal Ende 2026.
Ralf Stoll von der Kanzlei Dr. Stoll & Sauer ist überzeugt, dass die Aussichten für Kunden besser denn je sind. „Das Urteil des Verwaltungsgerichts Schleswig reiht sich in die jüngste umwelt- und verbraucherfreundliche Entwicklung im Abgasskandal ein. Dazu hat es grundlegende Bedeutung, weil auch in vergleichbaren Verfahren nun entsprechende Urteile zu erwarten sind“, meint Stoll. „Wir raten zunächst dazu, ein Urteil des EuGH im März abzuwarten. Sollte dies ebenfalls verbraucherfreundlich ausfallen, spricht viel für eine erfolgreiche Schadenersatzklage.“
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