Mit großer Mehrheit haben die Anteilseigner das Delisting am deutschen Aktienmarkt abgesegnet. Heimische Fonds kritisieren den Abschied vom Finanzplatz Frankfurt.
Gastank von Linde
Der Konzern will sich von der Frankfurter Börse zurückziehen.
Bild: IMAGO/Steinach
München Der derzeit wertvollste Dax-Konzern Linde zieht sich vom Finanzplatz Deutschland zurück. Auf einer außerordentlichen Hauptversammlung stimmten die Aktionäre des weltgrößten Industriegasekonzerns am Mittwoch laut vorläufigen Ergebnissen mit einer Mehrheit von mindestens 93 Prozent für das sogenannte Delisting in Frankfurt. Damit wird der Konzern auch aus dem deutschen Leitindex fallen.
Den Börsenrückzug in Frankfurt strebt Linde zum 1. März an. Die Aktie wird damit künftig nur noch an der Wall Street notiert sein. Deutsche Fonds, die Anteile halten, wollten gegen den Rückzug stimmen, weil sie eine Schwächung des Finanzplatzes Deutschland befürchten.
Bei der 2018 abgeschlossenen Fusion von Linde mit dem US-Konkurrenten Praxair hatten beide Seiten beteuert, dass der neue Konzern eine Doppelnotierung in den USA und in Deutschland plane. Allerdings entwickelte sich der Aktienkurs so gut, dass Fonds, die den Dax abbilden, immer wieder Aktien abstoßen mussten. Denn es gibt eine Kappungsgrenze von zehn Prozent für das Gewicht eines einzelnen Wertes im Leitindex. Diese Verkäufe drückten dann wiederum den Kurs.
Bei den deutschen Fondsgesellschaften gab es dennoch Widerstand. „Das Delisting ist eine Enttäuschung“, sagte Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei Deka Investment. Die Entscheidung zeige, dass letztlich Praxair Linde übernommen habe. „Es war eine Übernahme durch die Hintertür.“ Ein Teil der Deka-Kunden könne nun nicht mehr in Linde-Aktien investieren.
Auch Union Investment votierte gegen das Delisting. Zwar erscheine der Schritt aus Sicht des Managements „zumindest nachvollziehbar“, sagte Fondsmanager Arne Rautenberg. Dennoch sehe man den Schritt kritisch, da er zu einer „deutlichen Reduzierung des Volumens des deutschen Aktienmarktes“ führe. Die Fondsgesellschaft hat rund 2,5 Milliarden Euro in Linde-Aktien investiert.
Linde hat derzeit eine Marktkapitalisierung von rund 150 Milliarden Euro und liegt damit deutlich vor SAP und Siemens. Das Problem mit der Kappungsgrenze war zwischenzeitlich mit der Erweiterung des Dax auf 40 Mitglieder etwas kleiner, doch stieß Linde wieder an die Grenzen.
Die Doppelnotierung habe gute Dienste geleistet, es habe aber die Kursentwicklung gebremst, sagte Linde-Chef Sanjiv Lamba Ende vergangenen Oktober. Der Großteil des Handels mit Linde-Aktien fand in den vergangenen Jahren bereits an der Wall Street statt. Der offizielle Firmensitz liegt seit der Fusion in Irland, der steuerliche Sitz ist Woking bei London.
Für die Entscheidung war eine Mehrheit von 75 Prozent notwendig. Die Hauptversammlung fand in Danbury im US-Bundestaat Connecticut statt. Vom früheren Praxair-Sitz aus wird Linde zum großen Teil operativ geführt. Anders als in Deutschland dauern solche Aktionärstreffen in den USA nur sehr kurz. Nach Konzernangaben waren am Mittwoch 78 Prozent des ausstehenden Aktienkapitals vertreten.
Für die deutschen Börsen bedeutet die Entscheidung einen Rückschritt. „Für den Finanzplatz ist sehr schade, dass Linde plant, den Frankfurter Kurszettel zu verlassen“, sagte Christine Bortenlänger, Chefin des Deutschen Aktieninstituts. Die Entscheidung „pro New York“ zeige vor allem, dass der Kapitalmarkt in Deutschland noch nicht konkurrenzfähig sei.
In gewisser Weise können sich nun Kritiker wie Befürworter der damals heftig umstrittenen Fusion bestätigt sehen. Der starke Kursanstieg der Linde-Aktie in den vergangenen Jahren zeigt, dass sich die industrielle Logik bislang bestätigt hat. In der Industriegasebranche, die von wenigen Anbietern bestimmt wird, ist Größe ein wichtiger Wert. So konnten Lamba und sein Vorgänger Steve Angel die Margen immer weiter verbessern und die Gewinnziele nach oben setzen.
Auf der anderen Seite hatten vor allem die IG Metall und Arbeitnehmervertreter kritisiert, der vom früheren Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle vorangetriebene Zusammenschluss sei keine Fusion unter Gleichen, sondern eine verkappte Übernahme durch die Amerikaner.
Die Zusagen, dass das Unternehmen in Deutschland gelistet bleibe, seien nicht eingehalten worden, kritisierte der Gewerkschaftsbeauftragte Daniele Frijia von der IG Metall. Die Teile der Führung in den USA sähen Linde nicht mehr als Teil der alten „Deutschland AG“.
Die reine „Shareholder-Value“-Orientierung berge die Gefahr, dass „Interessen der Belegschaft langfristig zu wenig Beachtung finden“. Die Gewerkschaft messe die Unternehmensführung aber nicht am Börsenplatz, sondern am Umgang mit den Mitarbeitenden. Und da sei es gut, dass ein wesentlicher Teil des operativen Managements in Deutschland sitze.
So sei es gelungen, sagt Frijia, die Stellenabbauziele in Deutschland stark zu reduzieren. In Pullach gebe es erst einmal keine betriebsbedingten Kündigungen, und über eine interne Gesellschaft wolle man Überkapazitäten im Konzern in Zukunft besser auffangen.
Und es sei gelungen, den Standort Pullach als Hauptsitz für die Engineering-Sparte zu erhalten. Der Anlagenbau wird also weiter aus Deutschland geführt. Dennoch hat sich die Gewichtung in den vergangenen Jahren auch nach Einschätzung von Insidern in Richtung USA verschoben.
Somit gibt es in Deutschland viele Diskussionen über den Abschied Lindes – und über die Kappungsgrenze, die ihn mit auslöste. Diese sei „ein rein deutsches Thema“, sagte Fondsmanager Rautenberg. Das Problem wäre nach seiner Einschätzung gelöst, wenn der Gesetzgeber Fonds die Freiheit geben würde, einzelne Werte mit mehr als zehn Prozent zu gewichten. Dann erst ergebe es Sinn, Einzelwerte auch im Index höher zu gewichten.
Erstpublikation: 17.01.2023, 03:49 Uhr.
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