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10.08.2022

13:39

Umweltpolitiker befürchten das Aufweichen der EU-Ziele zur Pestizidreduktion. imago images/Countrypixel

Traktor mit Feldspritze auf einem Maisfeld

Umweltpolitiker befürchten das Aufweichen der EU-Ziele zur Pestizidreduktion.

Landwirtschaft

Düngerknappheit, Pestizidverbote: Landwirte und Agrarindustrie fürchten um die Ernten

Von: Bert Fröndhoff

Bauernpräsident Rukwied warnt vor einer Versorgungskrise in Europa und wendet sich gegen eine Einschränkung von Pflanzenschutzmitteln. Umweltschützer sind entsetzt.

Düsseldorf Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der EU soll in den nächsten Jahren um die Hälfte gesenkt werden – so sehen es die Pläne im Green Deal der EU-Kommission vor. Doch gegen die massive Reduktion gehen Landwirte und Hersteller nun verstärkt vor. Sie fürchten um die Ernteerträge und warnen wegen der ohnehin angespannten Lage auf den Agrarmärkten seit dem Ukrainekrieg vor Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung.

„Wir Landwirte, egal ob öko oder konventionell wirtschaftend, brauchen Pflanzenschutzmittel, um Erträge und Qualitäten unserer Ernten sichern zu können“, sagte Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbandes, dem Handelsblatt. „Sollten die Vorschläge der EU-Kommission zur Einschränkung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln tatsächlich umgesetzt werden, schlittern wir direkt in eine Versorgungskrise, die ganz Europa treffen würde.“

Die EU-Kommission hat im Green Deal und der darin enthaltenen Farm-to-Fork-Strategie („Vom Bauernhof zur Gabel“) klare Vorgaben für die Landwirtschaft in den Mitgliedstaaten gemacht. Die EU will für eine nachhaltige Landwirtschaft und gesündere Lebensmittel sorgen sowie den Klimaschutz verbessern.

Danach soll die ausgebrachte Menge an Pflanzenschutzmitteln bis 2030 halbiert werden. Im Jahr 2020 wurden in der EU 346.000 Tonnen versprüht. Zudem sollen die Bauern ein Fünftel weniger Düngemittel einsetzen. Ein Viertel der Agrarflächen in Europa soll nur noch ökologisch bewirtschaftet werden.

Die Bauern wenden sich vor allem gegen die geplante pauschale Halbierung der Mengen an Unkrautvernichtern und Mitteln gegen Insekten- und Pilzbefall. Das sieht auch die Agrarindustrie kritisch. 

Der Chef des Landwirtschaftsverbands fürchtet einen Engpass bei Düngemitteln. dpa

Bauernpräsident Joachim Rukwied

Der Chef des Landwirtschaftsverbands fürchtet einen Engpass bei Düngemitteln.

Grundsätzlich begrüße man die Farm-to-Fork-Strategie der EU, heißt es beim Industrieverband Agrar (IVA). Doch eine Halbierung der Menge an Pflanzenschutzmitteln sei nur mit erheblichen Ertragseinbußen in der Landwirtschaft zu erreichen.

Senkung der Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent

Der wissenschaftliche Dienst der Kommission, das Joint Research Center, hält mit dem EU-Programm eine Senkung der Treibhausgas-Emissionen der Landwirtschaft um 20 Prozent für möglich. Dies gehe aber auch mit einem Rückgang der Produktion einher, heißt es in dessen Bericht.

Ein prognostizierter Rückgang des Angebots bei Getreide und Ölsaaten um 15 Prozent und bei Gemüse um zwölf Prozent seien „angesichts der aktuellen Herausforderungen gewaltige Mengen“, warnt der IVA. Die Agrarindustrie spielt damit auf mögliche Versorgungsengpässe an, wie sie wegen zunehmender Dürre und den Auswirkungen des Ukrainekriegs befürchtet werden.

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Die Bauern sehen die Ernten wegen einer Vielzahl wachsender Probleme in Gefahr. Schon in diesem Jahr werden die Erträge laut Bauernpräsident Rukwied wegen der anhaltenden Trockenheit sinken. Dazu kommt: „Entscheidend für eine stabile Lebensmittelversorgung ist, dass wir Landwirte ausreichend Stickstoffdünger zur Verfügung haben. Sollte dieser fehlen, würden die Ernteerträge deutlich einbrechen.“

Stickstoffdünger wird aus dem Rohstoff Erdgas hergestellt. Dessen Preis ist zuletzt wieder deutlich gestiegen. Im Winter droht zudem ein Mangel an Gas wegen ausbleibender russischer Lieferungen. Die Düngerhersteller sehen die Lage auf dem Markt angespannt, gehen aktuell aber noch nicht von ernsthaften Engpässen aus. Derzeit könne die reduzierte inländische Produktion noch durch höhere Importe von außerhalb der EU kompensiert werden, heißt es beim IVA.

Die Warnungen vor Nahrungsmittelengpässen richten sich auch an Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). Der hatte am Wochenende angesichts angespannter internationaler Agrarmärkte infolge des Ukrainekriegs bereits reagiert: Der Minister will Bauern und Bäuerinnen ermöglichen, Agrarflächen für den Anbau bestimmter Pflanzen zur Nahrungsmittelproduktion länger zu nutzen.

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So sollen die eigentlich geplanten zusätzlichen Artenschutzflächen erst 2024 eingeführt werden. Bauern könnten dann im kommenden Jahr auf diesen Flächen weiter Nahrungsmittel anbauen. Dies sorgte für gemischte Reaktionen: Umweltschützer warfen Özdemir vor, dem Druck der Agrarlobby nachgegeben zu haben.

Umweltpolitiker fordern Schutz der Artenvielfalt

Genau das befürchten Umweltpolitiker auch bei aktuellen Forderungen nach einem Aufweichen der EU-Ziele zur Pestizidreduktion. Die Antwort auf die landwirtschaftlichen Herausforderungen könne nicht sein, „dringend erforderliche Ziele zum Schutz der Artenvielfalt, wie die Halbierung des Pestizideinsatzes, zu vertagen“, sagte Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament.

Häusling sieht gerade in der Klimakrise einen Grund für die sinkenden Erträge in der Landwirtschaft. Er sagt: „Wir dürfen die multiplen Krisen, mit denen sich die Welt konfrontiert sieht, nicht gegeneinander ausspielen.“

Das Bundeslandwirtschaftsministerium stützt diese Sicht: „Auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine dürfen wir die Bewältigung der weiteren Krisen wie die Klima- und Biodiversitätskrise nicht vernachlässigen“, heißt es in einer Stellungnahme.

In der Industrie werden zur Sicherung der Ernteerträge auch vermehrt Stimmen laut, das geplante Komplettverbot des umstrittenen Unkrautvernichters Glyphosat zu überdenken. Am geplanten Stopp zum 1. Januar 2024 in Deutschland will die Bundesregierung aber nicht rütteln.

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Dieser Termin sei bereits in der aktuell geltenden Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung verankert, teilte das Bundeslandwirtschaftsministerium mit. Es gebe ausreichend Alternativen zur Unkrautbeseitigung, wie etwa Pflügen oder die Behandlung mit anderen herbiziden Wirkstoffen.

Glyphosat bleibt länger verfügbar

In der EU hat Glyphosat nur noch bis Ende dieses Jahres eine Zulassung. Doch wird sich diese formell noch um einige Zeit verlängern. Grund sind die Verzögerungen beim Prozess zur möglichen Wiederzulassung auf EU-Ebene. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wird ihren Bericht zu Glyphosat erst Mitte 2023 vorlegen können – sie muss auf 3000 Seiten eingebrachte Positionen zu Glyphosat aufarbeiten.

Die Entscheidung über eine Wiederzulassung müssen die EU-Länder mit qualifizierter Mehrheit treffen. Glyphosat-Hersteller wie Bayer rechnen damit, dass die EU-Kommission dieses Votum erst 2024 umsetzen wird. Aktuell wird in der Branche damit gerechnet, dass entscheidende Länder wie Frankreich und Deutschland eine Wiederzulassung von Glyphosat ablehnen werden.

Bayer unterstützt nach eigenen Angaben die Ziele des Green Deals, wünscht sich aber, dass die Politik sich für ein objektives, wissenschaftsbasiertes und vor allem beschleunigtes Zulassungssystem einsetzt – das gelte für Wirkstoffe wie Glyphosat, aber auch für Pflanzenschutzmittel der nächsten Generation.

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