Haben sich deutsche Autohersteller bei der Abgassäuberung ihrer Motoren abgesprochen? Ein internes Dokument von Audi alarmiert die EU-Wettbewerbskommission. Die Konzerne äußern sich wegen der laufenden Ermittlungen nicht.
AdBlue-Tank
Das Harnstoff-Wasser-Gemisch steht im Zentrum der Affäre, die Audi und seinen Mutterkonzern VW belastet.
Bild: dpa
Der Anruf aus Brüssel kam nicht völlig überraschend. Er habe sofort gewusst, worum es ging, erzählt Stefan Cramer*. Über fünf Jahre lang arbeitete er für den Ingolstädter Fahrzeughersteller Audi. Vor wenigen Tagen klingelte dann das Telefon. Er sei Mitarbeiter der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Es gebe da einige Fragen zu einem Dokument aus dem April 2010.
Cramer musste nicht lange überlegen, welches Dokument das Interesse der Wettbewerbshüter geweckt hatte. „Clean Diesel Strategie“, stand über der Audi-Präsentation des Technischen Steuerungskreises vom 1. April 2010, die dem Handelsblatt vorliegt. Auf 34 Folien legten die Topmanager dar, wie sich die Anforderungen an die Umweltverträglichkeit ihrer Motoren verschärften und welche Maßnahmen ergriffen werden könnten. Heraus stach dabei ein Satz auf Folie 22: Es gebe ein „Commitment der deutschen Automobilhersteller auf Vorstandsebene“, künftig kleine AdBlue-Tanks zu verwenden.
Es war ein Satz, der nicht in die Landschaft passte. AdBlue ist ein Harnstoff-Wasser-Gemisch, mit dem Stickoxide in den Motoren neutralisiert werden. Seitenlang hatten die Audi-Techniker gerade selbst beschrieben, dass künftig immer weniger Schadstoffe ausgestoßen werden dürften. Warum sollte sich Audi also selbst verpflichten, den dafür nötigen Wirkstoff nur in kleinen Tanks mitzuführen? Und warum sollten andere Autohersteller da mitziehen?
Adblue – Audi verkaufte sie stets als Technologie, die angeblich den saubersten Diesel der Welt ermöglichte. Doch tatsächlich war das geflunkert. Die ganze Geschichte des Skandals, der buchstäblich zum Himmel stinkt.
Mitte März durchsuchte die Staatsanwaltschaft München II Audi-Standorte und nahm auch diese Präsentation mit. Das Papier gelangte dann über Umwege nach Brüssel. Die Wettbewerbskommission der Europäischen Union war über den Inhalt so verwundert, dass sie gleich vier Mitarbeiter auf die Klärung der Sache ansetzte.
Was hat es mit der Größe der AdBlue-Tanks auf sich? Nach Recherchen des Handelsblatts steht das Harnstoff-Wasser-Gemisch im Zentrum der Affäre, die Audi und seinen Mutterkonzern Volkswagen schwer belastet. So wurde Kunden in den USA versprochen, sie müssten AdBlue, eine klebrige Flüssigkeit, nur alle 30.000 Kilometer nachfüllen – und dann auch nicht selbst. „Kunde darf mit AdBlue nicht in Kontakt kommen“, steht in der Präsentation.
Stattdessen sollte die Flüssigkeit von Werkstattmitarbeitern bei den üblichen Service-Intervallen aufgefüllt werden. Das Problem: Die Tanks waren viel zu klein. Sollte AdBlue den Stickstoff-Ausstoß ordnungsgemäß drosseln, wären die Tanks je nach Modell schon nach 5000 Kilometern leer. Audis Lösung: Man vergrößerte nicht die Tanks, sondern verringerte die Einspritzmenge.
Im Frühjahr 2017 gab der Konzern in den USA zu: Audi installierte eine Software, die den Verbrauch von AdBlue künstlich kappte. So stießen die Dieselmotoren zwar mehr Schadstoffe aus als erlaubt, aber sie fuhren länger, ohne in die Werkstatt zu müssen. Das Eingeständnis kostete den Konzern in den USA bereits Milliarden.
Das Dokument vom 1. April 2010 aus dem Hause Audi ist für die Wettbewerbshüter deshalb besonders spannend. Die Verfasser rechneten genau vor, wie der Konzern durch den Verbau kleinerer Tanks nicht nur Platz und Gewicht, sondern auch Geld sparte. So brächte ein 12-Liter-Tank gegenüber einem 24-Liter-Tank einen Vorteil von 100 Euro und 20 Kilogramm. Gemessen an den Millionen Dieselfahrzeugen, die Audi seit 2010 verkaufte, wäre dies eine immense Ersparnis gewesen. Auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart beim Konkurrenten Daimler zielen auf vermutete Manipulationen der AdBlue-Einspritzmenge. Beide Konzerne äußern sich wegen laufender Ermittlungen nicht.
Nun lässt die Präsentation vom 1. April 2010 bei Audi nicht erkennen, ob es sich nur um einen Wunsch des obersten Technik-Gremiums handelte oder um einen Plan, der bereits umgesetzt wurde. Audi, Volkswagen, BMW und Daimler wollen das auf Anfrage nicht kommentieren. Opel betont, jeder Hersteller habe „seine eigene Strategie gewählt“.
Ob dem so ist, wird nun von den europäischen Kartellwächtern nachgeprüft. Der Verdacht: Die deutschen Hersteller wollten in Sachen AdBlue kein Aufsehen erregen. Wäre ein Konzern ausgeschert und hätte serienweise große Tanks verbaut, hätte dies Nachfragen von Kunden und Behörden provozieren können. Ruhe war die erste Branchenpflicht.
Schaut man auf das Fassungsvermögen der deutschen AdBlue-Behälter, ist eines auffällig: Sie sind klein, damals wie heute. Daimler spricht zwar von „groß dimensionierten AdBlue-Tanks“. Viele Modelle werden jedoch serienmäßig mit 8,5-Liter-Tanks angeboten. Bei Opel sind es acht Liter. VW-Diesel haben eine AdBlue-Tankgröße zwischen 11 und 19 Litern. Bei Audi sind es vor allem 12-Liter-Tanks. Die Größenordnung von BMW liegt überwiegend zwischen 12 und 15 Litern.
Die deutschen Autobauer äußern sich nicht zu einer konkreten Absprache. Während Opel betont, die AdBlue-Tankgrößen resultierten aus „internen Anforderungen“, begründen Volkswagen und Daimler ihr Schweigen auch in diesem Punkt mit den laufenden staatsanwaltlichen Untersuchungen. Bei BMW heißt es, man arbeite „fallweise“ mit anderen Herstellern zusammen, etwa „bei Entwicklung und Einkauf von Komponenten und Technologien, die nicht wettbewerbsdifferenzierend sind“.
Rechtsexperten halten Absprachen generell für knifflig. „Jede abgestimmte Verhaltensweise ist kartellrechtlich verboten“, betont Kartellrechtler Christian Genzow, Partner bei der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen. Jürgen Ensthaler, Professor an der TU Berlin, pflichtet ihm bei: „Die Kartellbehörden – zuständig ist die Europäische Kommission – sind zum Einschreiten verpflichtet.“ So ist es nun gekommen.
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