Nach dem desaströsen vierten Quartal stabilisiert sich die Lage in der deutschen Chemie. Doch die Schwächen des Standorts bleiben unübersehbar und alarmieren auch die Gewerkschaften.
TDI-Produktion bei BASF in Ludwigshafen
Die Anlage für Kunststoff-Vorprodukte wird dichtgemacht und abgebaut.
Bild: BASF SE
Düsseldorf In der deutschen Chemieindustrie hellt sich die Stimmung gegen Ende des Winters erstmals wieder auf. Wegen der deutlich gesunkenen Preise für Energie und Rohstoffe und ausreichender Gasvorräte zeigen sich die Hersteller zuversichtlich, die Produktion nicht noch weiter zurückfahren zu müssen, heißt es in dem am Donnerstag vorgelegten Ausblick des Branchenverbands VCI.
Nach dem Produktionseinbruch im vergangenen Jahr scheine die Talsohle jetzt erreicht, beobachtet der VCI. Man rechne allerdings nicht mit einer „kraftvollen Erholung“, weil sich die Kunden in der weiterverarbeitenden Industrie mit neuen Bestellungen noch sehr zurückhielten. Doch allein die Aussicht, den Winter ohne den befürchteten Gasmangel zu überstehen, macht die Unternehmen etwas zuversichtlicher.
Jetzt hofft die Branche auf neue Aufträge. Doch einen Schub am Markt erkennen auch die börsennotierten Chemieunternehmen noch nicht, die in den vergangenen Tagen Ergebnisse und Ausblicke vorgelegt haben. Anzeichen für eine Erholung habe es zuletzt nur aus der Automobilindustrie gegeben, dies ebbe aber schon wieder ab, heißt es beim Kunststoffhersteller Covestro.
Über zögerliche Neubestellungen vor allem in Europa berichtet auch der weltgrößte Chemiehändler Brenntag. Wegen der unsicheren Lage deckten viele Hersteller ihren Bedarf noch aus den hohen Lagerbeständen. Dieser Effekt werde auch im ersten Quartal noch anhalten, erwartet Brenntag-CEO Christian Kohlpaintner.
Die Lage in der Chemie gilt als Frühindikator für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung. Die Branche versorgt nahezu alle Industriezweige mit Chemikalien und Kunststoffen und spürt Veränderungen in der Nachfrage früh. Aus dem Chinageschäft – früher der Motor für die Chemiekonjunktur – kommen nach Einschätzungen großer Hersteller aktuell noch wenige Impulse.
Die deutsche Chemieindustrie hat binnen eines Jahres eine rasante Talfahrt erlebt. In der ersten Hälfte 2022 boomte die Branche förmlich, da die Kunden ihre Lager in Erwartung von Lieferengpässen und weiteren Preissteigerungen füllten. Ab dem Spätsommer schwächelte die Konjunktur aber immer mehr – entsprechend deutlich fiel der Einbruch in der Chemie aus.
Die Entwicklung gipfelte in einem desaströsen vierten Quartal, in dem die Chemieproduktion (ohne Pharma) in Deutschland um nahezu 25 Prozent zurückging. Die Zahl verdeutlicht, wie stark die Hersteller die Anlagen heruntergefahren haben – auch weil sich viele Produktionen wegen der hohen Energiekosten nicht mehr wirtschaftlich betreiben ließen.
Daran änderten auch die Preiserhöhungen nichts, die die Chemieunternehmen nach dem starken ersten Halbjahr noch durchsetzen konnten. Die Preisaufschläge führten über das gesamte Jahr 2022 gesehen noch zu einem Umsatzanstieg von 17 Prozent auf 265 Milliarden Euro. Die Chemieproduktion aber ging im Jahresvergleich um zwölf Prozent zurück.
Die Gewinne dürften vor allem in den mittelständischen Chemieunternehmen wegen der hohen Energie- und Rohstoffkosten deutlich geschrumpft sein, heißt es beim VCI. Denn die Mittelständler mit ihren in Deutschland und Europa konzentrierten Produktionen sind voll von den höheren Energiepreisen betroffen – anders als globale Großkonzerne wie BASF oder Evonik, die in Asien und den USA vom dort billigeren Strom und Gas profitieren.
Für 2023 bleibt der VCI vorsichtig und geht derzeit von einem weiteren Rückgang der Chemieproduktion aus. Weil die Verkaufspreise tendenziell sinken werden, sei ein Umsatzrückgang von sieben Prozent zu befürchten. Alle Hoffnungen richten sich auf ein Anspringen der Konjunktur im Laufe des zweiten Quartals.
Die Stimmung in der Chemie ist aktuell zwar besser als gegen Ende 2022. Doch die Chemieunternehmen sorgen sich um die veränderten Standortbedingungen mit Energiepreisen auf dauerhaft höherem Niveau. „Die Krisen der vergangenen Jahre haben die Schwächen des Standorts Deutschland offengelegt“, sagt VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup.
Vor allem in der Basischemie, die die Grundlagen für alle weiteren Chemie-Produktionsketten liefert, ist absehbar: Einige der stillgelegten Anlagen werden nicht mehr hochgefahren. Die Auswirkungen der Energiekrise zeigen sich bereits konkret beim Marktführer BASF.
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Der Konzern hat im vergangenen Jahr seine gasintensive Ammoniakproduktion am großen Verbundstandort Ludwigshafen stillgelegt und wird nur einen Teil davon wieder hochfahren. Zwei weitere Großanlagen für Vorprodukte für Kunststoffe werden stillgelegt und abgebaut, teilte der Konzern vor wenigen Tagen mit.
„Alte Gewissheiten sind weg“, sagt Christian Kullmann, CEO von Evonik aus Essen. „So wie früher wird es nie mehr.“ Offen ist, ob und wie stark die Krise auch die in Deutschland starke Spezialchemie dauerhaft beeinträchtigen wird. Sie ist weniger vom Gas abhängig und hat zudem im vergangenen Jahr den Verbrauch noch mal deutlich gesenkt – etwa durch Umrüstungen und einen „Fuel Switch“ zu Öl im Heizbetrieb.
Entscheidend für die Produktionskosten in vielen Spezialchemiefirmen ist eher der Strompreis. Laut dem VCI sei ein Industriestrompreis von fünf bis zehn Cent pro Kilowattstunde nötig, um den Chemiestandort Deutschland international wettbewerbsfähig zu halten. Aktuell subventioniert die Bundesregierung über die Preisbremse die gewerblichen Stromkosten bis 13 Cent pro Kilowattstunde, der Marktpreis liegt bei 40 Cent.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat angekündigt, „sehr zeitnah“ eine dauerhafte marktwirtschaftliche Lösung für einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis anzuschieben. Den Herstellern geht dies aber nicht schnell genug – und sie wissen dabei die Mitarbeitenden und Gewerkschaften an ihrer Seite.
Am Donnerstag waren zahlreiche Proteste in deutschen Stahl- und Chemieunternehmen geplant. Es brauche einen Industriestrompreis, „der dem europäischen Vergleich standhält, international wettbewerbsfähig ist und langfristige Planbarkeit gewährleistet“, teilten die IG Metall, IG Bau und IG Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) vorab mit. Insbesondere in den energieintensiven Branchen wie der Stahl-, Chemie- oder Baustoffindustrie drohten sonst Stellenabbau und Standortschließungen.
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