Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

01.07.2022

15:03

Social Media

Wie der Tiktok-Boom Facebook und Google zur Veränderung zwingt

Von: Christof Kerkmann, Larissa Holzki, Stephan Scheuer

Der Meta-Konzern setzt auf eine „Entdeckungsmaschine“, um den Erfolg der Video-App zu kopieren. Tiktok führt die Konkurrenz vor – auch, weil sich das Nutzerverhalten ändert.

Die Video-App gewinnt an Popularität. Reuters

Tiktok-Logo am Strand

Die Video-App gewinnt an Popularität.

Düsseldorf, San Francisco Bei Facebook steht eine kleine Revolution an: Im Newsfeed, dem zentralen Element der Plattform, sollen Nutzer künftig zahlreiche Beiträge angezeigt bekommen, die nicht aus ihrem eigenen Netzwerk stammen. Stattdessen soll ein Algorithmus Texte, Gruppenbeiträge, Fotos und Videos identifizieren, die aufgrund der eigenen Nutzungsgewohnheiten vermutlich von Interesse sind – unabhängig davon, wer sie veröffentlicht hat.

Diese Veränderungen, über die das Technologieportal „The Verge“ zuerst berichtet hat, geschehen nicht freiwillig. Betreiberkonzern Meta reagiert damit auf den enormen Erfolg von Tiktok. Die App des chinesischen Eigentümers Bytedance fesselt weltweit fast 1,6 Milliarden Nutzer regelmäßig an die Smartphone-Bildschirme – mit Kurzvideos, die scheinbar perfekt für jeden Einzelnen ausgesucht werden.

Die neue Strategie von Meta, eine eigene „Entdeckungsmaschine“ zu bauen – wie es der Konzern nennt –, ist das sichtbarste Zeichen: Tiktok sorgt für einen großen Umbruch in der Social-Media-Welt. Eine Welt, in der die jeweiligen Algorithmen als Erfolgsgaranten gelten und wohlgehütete Geschäftsgeheimnisse sind.

Die Tiktok-App, die mit Karaoke, Tanzeinlagen und Comedy bekannt geworden ist, hat sich inzwischen auch außerhalb der jungen „Gen Z“ als Unterhaltungsmedium etabliert. Und damit vor allem als Wettbewerber zu den Meta-Netzwerken Facebook und Instagram sowie Googles Youtube, letztlich aber zu allen Angeboten, die um die Ressource Aufmerksamkeit buhlen.

Welche Bedeutung Tiktok hat, zeigt eine Auswertung des Marktforschers Sensor Tower, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt: Demnach verzeichnete der chinesische Entwickler in den ersten fünf Monaten dieses Jahres auf den Smartphone-Plattformen von Apple und Google rund 313 Millionen Downloads. Facebook und Instagram liegen mit 271 respektive 265 Millionen deutlich dahinter. Der Kampf um die Zukunft der Branche ist entbrannt.

Ein Algorithmus, der süchtig macht

„Der Erfolg von Tiktok basiert auf unterschiedlichen Zutaten, die gemeinsam eine hohe Wirkung entfalten“, sagt der Social-Media-Berater Thomas Hutter. Zum einen ist da der Algorithmus, der die Rubrik „For You“ mit immer neuen Videos speist. dieser analysiert genau, welche Inhalte die Nutzer interessieren – und zwar anhand ihres tatsächlichen Sehverhaltens.

Welche Clips gucken sich Nutzer an und wie lange, welche überspringen sie? All das fließt in die Auswahl ein. Ob Karaokeauftritte oder Tanzeinlagen, Kochtipps oder Buchempfehlungen, Harry-Potter-Imitationen oder Videos zum Krieg in der Ukraine: Die Empfehlungen sind offenbar so treffsicher, dass sich viele Nutzer – nur halb im Scherz – als süchtig bezeichnen.

Grafik

Zum anderen habe Tiktok starke Instrumente für die Videobearbeitung sowie eine umfangreiche Musikkollektion, beobachtet Hutter: „Beides vereinfacht die Produktion und erlaubt unheimlich kreative Inhalte.“ Viele Trends, die heute das Internet beschäftigen oder amüsieren, gehen daher von der App aus, auch wenn sie später über Twitter, Facebook oder Instagram weiterverbreitet werden.

Das kurze Format – bis zu zehn Minuten sind möglich, 15 oder 30 Sekunden aber üblich –, trägt seinen Teil zur Popularität bei. Derartige Videoschnipsel sind schnell erstellt und noch schneller konsumiert.

„Die sehr hohen durchschnittlichen Verweildauern auf Tiktok bestätigen das Format“, sagt Hutter, der Unternehmen mit seiner Firma Hutter Consult im Umgang mit Social Media berät. Monatlich 19,6 Stunden verbringt jeder Nutzer im Durchschnitt auf der Plattform, so viel wie bei Facebook. Das geht aus Zahlen des Marktforschers Data.ai hervor.

Auch bei den Nutzerzahlungen schrumpft der Abstand. Mit 2,9 Milliarden Nutzern ist Facebook nach wie vor das Maß aller Dinge, Tiktok holt jedoch rasant auf. Nach Einschätzung des Marktforschers Data.ai nutzen jeden Monat fast 1,6 Milliarden Menschen die App.

Wirtschaftlich stark, kulturell relevant

In einer Branche, die Aufmerksamkeit verkauft, ist die lange Nutzungsdauer Gold wert. Der Umsatz von Tiktok dürfte nach einer Prognose des Marktforschers E-Marketer im laufenden Jahr auf 11,64 Milliarden Dollar anwachsen, dreimal so viel wie 2021. Einen Großteil des Umsatzes erwirtschaftet der Konzern mit Werbung, er experimentiert aber auch mit anderen Geschäftsmodellen. Beispiel E-Commerce: Unternehmen sollen direkt über die Plattform Produkte verkaufen können. Im Heimatmarkt China ist dieses „Live Shopping“ bereits ein erhebliches Erfolgsmodell.

Das wachsende Geschäft treibt die Bewertung des Betreibers Bytedance, der neben Tiktok in China die App Douyin betreibt: Sie betrug nach einem Bericht der „South China Morning Post“ bei einer privaten Finanzierung im April rund 300 Milliarden Dollar. Das sind zwar 100 Milliarden Dollar weniger als vor den aktuellen Börsenturbulenzen, die auch Firmen in privater Hand beeinträchtigen. Trotzdem sind nur wenige chinesische Technologiekonzerne mehr wert.

Die Konkurrenz zwischen den Social-Media-Diensten ist groß. dpa

Apps auf einem iPhone

Die Konkurrenz zwischen den Social-Media-Diensten ist groß.

Auch einige Dax-Konzerne mischen inzwischen mit. Die Sportartikelhersteller Adidas und Puma haben in der Deutschland AG die größte Reichweite, auch Porsche und Zalando erreichen ein Millionenpublikum. Selbst der Deutsche Fußball-Bund (DFB) will mit einem Kanal „die junge und digitale Zielgruppe“ ansprechen.

Mit der großen Reichweite kommt zudem eine große kulturelle Relevanz. So steigen Songs, die sich auf der Plattform viral verbreiten, in den Charts weit nach oben. Selbst wenn sie aus der vordigitalen Zeit stammen: „Dreams“ von Fleetwood Mac aus dem Jahr 1977 etwa, was 2020 durch ein virales Kurzvideo wieder zum Hit wurde.

Das Unternehmen selbst bezeichnet sich als „das Zuhause für die Entdeckung und Wiederentdeckung von Musik und Künstlern“ und als mächtiges Marketingwerkzeug, um Zielgruppen in aller Welt zu erreichen. Auch die Plattform selbst profitiert: Musik sei bei der Erstellung von Videos „unglaublich wichtig“.

Meta bezahlte Schmutzkampagne

Aus Sicht von Meta-Chef Zuckerberg handelt es sich um eine grundlegende Verschiebung: „Ich denke, dass die Menschen in Zukunft zunehmend auf KI-basierte Entdeckungsmaschinen zurückgreifen werden, die sie unterhalten, ihnen etwas beibringen und sie mit Menschen verbinden, die ihre Interessen teilen“, erklärte er gegenüber Finanzanalysten.

Und so versucht die Konkurrenz, das Erfolgsrezept von Tiktok zu ergründen. „Es wird kopiert, was das Zeug hält“, beobachtet Social-Media-Berater Hutter. So hat Meta für Facebook und Instagram Kurzvideoformate entwickelt. Meta-Chef Mark Zuckerberg sagte bei Vorlage der jüngsten Quartalszahlen, das Unternehmen habe den Fokus auf Kurzvideos spät erkannt, setzt nun aber alles daran, auch den Bereich stark zu besetzen.

Und damit attraktive Inhalte entstehen, arbeitet der Konzern an Monetarisierungsmöglichkeiten. Videofilmer, ob Amateure oder Profis, sollen mit ihren Inhalten Geld verdienen können, etwa durch Partnerschaften mit Marken.

Google wiederum hat das Format Youtube Shorts eingeführt. Zunächst in Indien, wo Tiktok verboten ist – nun läuft die Vermarktung in den USA. 1,5 Milliarden monatliche Nutzer erreicht der Konzern nach eigenen Angaben. Auch Snapchat, vor wenigen Jahren in jungen Zielgruppen noch das am schnellsten wachsende Netzwerk, reagierte mit der Funktion Spotlight darauf, von Tiktok abgehängt worden zu sein.

Der Social-Media-Berater Matt Navarra, der in der Vergangenheit für Meta und Google tätig war, spricht daher von einer „Tiktok-ifizierung der sozialen Medien und von Apps im Allgemeinen“: Kurze Videos und vertikales Scrollen werden zum Standard.

Gefährliche China-Connection

Der Konkurrenzkampf wird nicht nur über die Produktentwicklung geführt. Meta hat US-Medienberichten zufolge eine Negativkampagne gegen Tiktok in Auftrag gegeben. Die „Washington Post“ berichtete, dass eine Agentur den Facebook-Konkurrenten als eine Gefahr für Kinder und die Sicherheit der USA charakterisieren sollte – über Meinungsbeiträge und Leserbriefe, aber offenbar auch die Verbreitung unwahrer Geschichten.

Dabei braucht es keine Kampagne, um bei Tiktok Angriffspunkte zu finden: Es gibt Mängel beim Datenschutz, bestimmte Inhalte werden zensiert, der Jugendschutz ist unzureichend.

Die chinesische Staatsführung unterwirft zudem alle Unternehmen im Land dem Zwang zu einer engen Kooperation mit Sicherheitsbehörden. Gerade Technologiefirmen stehen im Fokus, auch Tiktok-Eigner Bytedance.

Der Konzern stand schon mehrfach im Verdacht, eng mit Sicherheitsbehörden zu kooperieren. Das Unternehmen hat das stets abgestritten und betont, die Daten von Nutzern außerhalb Chinas seien innerhalb des Landes nicht erreichbar. Whistleblower haben diese Darstellung jedoch infrage gestellt.

In den USA hat die Aufsicht darauf reagiert. Der Vorsitzende der Telekommunikationsbehörde FCC warf Tiktok jüngst vor, sensible Daten zu sammeln, auf die China zugreifen könne. Er forderte daher Apple und Google auf, die App von ihren Plattformen zu entfernen.

Die größte Gefahr für die App droht derzeit nicht durch die Konkurrenz, sondern durch die Behörden. Das gilt auch im Heimatmarkt, wo die Regierung in Peking zusehends das Nutzerverhalten im Web reguliert.

Kommentare (1)

Selber kommentieren? Hier zur klassischen Webseite wechseln.  Selber kommentieren? Hier zur klassischen Webseite wechseln.

Account gelöscht!

01.07.2022, 15:28 Uhr

Tiktok wird vom Westen dafür kritisiert, dass es Daten seiner jungen Nutzer abzieht. Was für Daten denn Tiktok denn bitte? Welche Videos die Nutzer ansehen, liken und kommentieren.
Dagegen nutzen sämtliche US-Datenkraken –Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft– Zugriff auf höchst persönliche Daten, wie Suchanfragen, Nachrichtenverläufe, Bilder+Videos, Standort und komplettes Nutzungsverhalten. Deshalb meidet diese Firmen, wo immer es geht und nutzt alternative Suchmaschinen (z.B. Qwant auf Frankreich) und Messaging-Apps, wie Signal und Threema.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×