In Zeiten gestörter Lieferketten wollen viele Unternehmen wieder regional produzieren. Doch das kostet Effizienz. Neue Geschäftsmodelle sollen das ändern.
Hannover Als die chinesische Regierung vor einigen Wochen damit begann, zahlreiche Stadtteile in der Millionenmetropole Schanghai aus Infektionsschutzgründen abzuriegeln, war das ein Schock für die deutsche Industrie. Viele Wirtschaftsforscher senkten in der Folge ihre Wachstumsprognosen für das laufende Jahr.
Die deutschen Maschinenbauer, die vor allem vom Export leben, trifft der Ausnahmezustand besonders. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) erwartet, dass die Maschinenproduktion in Deutschland im Jahr 2022 nur noch um ein Prozent zulegen wird, teilte der Verband bei der Eröffnungspressekonferenz zur Hannover Messe mit. Ursprünglich hatte die Branche mit einem Plus von vier Prozent gerechnet.
Der Welthandel wird von einer Vielzahl an Krisen bedroht. Zunächst waren es die Pandemie und eine wochenlange Blockade des Suezkanals, die für lange Lieferzeiten sorgten. Mit dem Krieg in der Ukraine sind viele Lieferketten gerissen.
Viele Unternehmen denken deshalb darüber nach, ihre Produktionsnetzwerke stärker zu regionalisieren, um sich besser gegen plötzlich auftretende Handelsbarrieren und Lieferengpässe zu schützen. Das Ziel lautet mehr Resilienz: Damit gemeint ist die Fähigkeit, schwierige Situationen ohne anhaltende Beeinträchtigungen zu überstehen.
So wollen weltweit 43 Prozent der Industrieunternehmen ihre Produktion neu ordnen, um resilienter zu werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine noch unveröffentlichte Umfrage der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) unter rund 1500 Produktionsverantwortlichen, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt.
Vor allem in Hochlohnländern wie Deutschland haben viele Unternehmen allerdings Sorge, dass das sogenannte „Reshoring“, also das Zurückverlagern von Produktionskapazitäten von Schwellenländern in Industrieländer, zu steigenden Kosten führen wird. So gaben insgesamt 45 Prozent der Befragten an, dass der zunehmende Kostendruck eine der wichtigsten Herausforderungen in der aktuellen Lage sei.
Denn der Bau einer neuen Fabrik verlangt hohe Investitionen, gleichzeitig sinkt die produzierte Stückzahl pro Werk durch eine Aufteilung dramatisch. In der Folge drohen Überkapazitäten und Ineffizienzen. Das lässt Maschinen- und Anlagenbauer über neue Finanzierungs- und Produktionsmodelle nachdenken, die zu einer besseren Auslastung von neu geplanten Fabriken führen sollen.
Ein Beispiel dafür ist „Equipment as a Service“ (EaaS): So bietet etwa der Werkzeugmaschinenhersteller DMG Mori seinen Kunden seit einiger Zeit ein Abomodell an, bei dem nicht der Kauf der Maschine selbst, sondern lediglich die Nutzung bezahlt wird. Auch der Anlagenbauer Heidelberger Druckmaschinen bietet seine Produkte mittlerweile in einem solchen „Pay-per-Use“-Modell (PPU) an – ebenso wie das Familienunternehmen Kärcher, das neben Reinigungsgeräten auch Autowaschanlagen produziert.
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Aus Sicht von Sven Siering, Geschäftsführer der Digitaltochter Vent.io von der Deutschen Leasing, sind solche PPU-Modelle der nächste Evolutionsschritt des Leasings. Zentral dafür sei, dass sich durch die Digitalisierung und das Auswerten von Maschinendaten heute deutlich genauer berechnen lasse als früher, wie hoch die Auslastung und der Verschleiß einer Maschine tatsächlich sind. „Das ermöglicht, dass Kunden nur die effektive Nutzung zahlen. Somit werden flexiblere Liquiditätsplanungen bei gesteigerter Planungssicherheit ermöglicht.“
Nicht nur Maschinenhersteller, auch Finanzdienstleister wie die Deutsche Leasing interessieren sich daher zunehmend für solche Abomodelle. Das Auslesen der Maschinendaten könnte dabei das Start-up Enlyze übernehmen, an dem sich die Digitaltochter Vent.io erst kürzlich beteiligt hat.
Das Unternehmen hat sich darauf spezialisiert, herstellerunabhängige Datenmodelle zu entwickeln, um die Effektivität von Produktionsanlagen zu messen. Daraus lassen sich etwa Strategien entwickeln, mit denen die Effizienz gesteigert werden kann – aber es können auch Nutzungsdaten abgelesen werden, wie sie zum Beispiel für Geschäftsmodelle rund um das Thema „Equipment as a Service“ benötigt werden.
Noch einen Schritt weiter geht das Konzept „Production as a Service“ (PaaS): Dahinter steckt die Idee, dass ein externer Investor eine Fabrik baut, in der verschiedene Unternehmen ein Produkt fertigen lassen. „Der große Vorteil für die Kunden besteht darin, dass sie Investitionskosten in Betriebskosten verwandeln und damit ein geringeres Risiko eingehen“, erklärt BCG-Partner Kristian Kuhlmann, der die Studie mitverantwortet.
Aus seiner Sicht sind sowohl EaaS als auch PaaS gleichermaßen Versuche, das Investitionsrisiko für den Bau neuer Fabriken besser aufzuteilen. „Der Betreiber übernimmt das Investitionsrisiko, lässt sich dafür aber eine Prämie vom Kunden bezahlen und eine bestimmte Abnahmemenge zusichern“, so der Branchenexperte. Dabei müsste die richtige Balance gefunden werden, um das Modell für beide Seiten attraktiv zu machen.
Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist das Presswerk Smart Press Shop, das 2021 als Joint Venture des Autoherstellers Porsche und des Anlagenbauers Schuler in Betrieb genommen wurde. Dabei wurde die Produktion speziell auf Kleinserien ausgelegt. Um die Auslastung zu steigern, produziert der Smart Press Shop nicht nur für Porsche, sondern auch für andere Autohersteller. Erst dadurch ist die Investition, die sich Porsche und Schuler zu je 50 Prozent geteilt hatten, profitabel.
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PaaS eigne sich vor allem für Produkte, die in niedrigen Stückzahlen gefertigt werden, „wo sich eine Investition in eine eigene Anlage nicht rechnet“, sagt Kuhlmann. „Der PaaS-Anbieter hingegen kann seine Fabrik deutlich besser auslasten, weil er mehrere Kunden bedient.“
Dabei geht BCG davon aus, dass der Markt in den nächsten Jahren stark wachsen wird: Allein in Deutschland könnten jährlich rund fünf bis sieben Milliarden US-Dollar in neue PaaS-Fabriken investiert werden, so die Schätzung der Beratungsfirma. Global könnte das Marktvolumen gar auf bis zu 98 Milliarden US-Dollar anwachsen, mit den USA und China (je bis zu 26 Milliarden US-Dollar) als den beiden wichtigsten Einzelmärkten.
Denn die Bereitschaft der produzierenden Unternehmen, sich eine Fabrik mit anderen Firmen zu teilen, ist hoch. Weltweit gaben rund 62 Prozent der Befragten an, sich vorstellen zu können, ihre aktuelle Produktionsstätte mit anderen Unternehmen zu teilen. Bei neu gebauten Fabriken sind es sogar 85 Prozent.
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