PremiumKeine Branche rechnet mit einem Rückgang der Produktion und des Geschäfts – die meisten Branchen sogar mit einem kräftigen Schub. Das liegt auch am Materialmangel.
Branchenausblick
Der Optimismus bei den Unternehmen für 2022 ist groß.
Düsseldorf Es fehlt an Holz, Halbleitern, Aluminium und Kunststoffen. Oder an speziellen Stoffen, wie seit einigen Wochen Harnstoff für die Herstellung von Adblue, um Stickoxidemissionen vor allem bei Automobilen zu reduzieren. Fast wöchentlich kommen neue, fehlende Produkte hinzu. Und jetzt rollt wegen der Omikron-Variante auch noch die nächste Coronawelle an. Die Probleme für die Firmen werden größer, doch ihre Zuversicht kann das nicht trüben.
Im Gegenteil: Der Optimismus für 2022 ist groß. Ob Feinmechanik, Gießereien, Gummiverarbeiter, die von Corona gebeutelte Messewirtschaft oder der seit Jahren kriselnde Bergbau: Keiner der 48 vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) anlässlich des Jahreswechsels befragten Wirtschaftsverbände rechnet mit einem Produktions- oder Geschäftsrückgang. Das hat es noch nie gegeben und zeugt von einer außerordentlich hohen Erwartungshaltung für die Konjunktur.
Dafür verantwortlich sind nach Ansicht von IW-Chef Michael Hüther drei Faktoren: „Nachholeffekte, denn das Vorkrisenniveau ist immer noch nicht erreicht. Zweitens ein Aufholen angesichts des Materialmangels samt großer Lieferverzögerungen. Und drittens historisch hohe Auftragsbestände.“
In 39 Wirtschaftsverbänden gehen die Firmen mehrheitlich 2022 von einem höheren Produktionsniveau als 2021 aus. Darunter sind alle wichtigen Branchen wie Chemie, Pharma, Automobil, Luftfahrt, Elektroindustrie, Bau, Handwerk, Einzelhandel, Tourismus und Immobilien.
Vier Verbände rechnen sogar mit einer wesentlich höheren Produktion, darunter die beschäftigungsintensiven Branchen Maschinenbau, Stahl- und Metallverarbeitung. Das dürfte zum einen an der erwarteten höheren internationalen Investitionstätigkeit liegen. Zum anderen spiegelt dies auch die von den Branchen vielfach erhoffte Trendwende in Deutschlands Schlüsselindustrie, dem Automobilsektor, wider.
Grundlage für die guten Perspektiven sind im Wesentlichen zwei Ursachen: Nachholeffekte und Investitionen.
Seit dem Spätsommer ist die Erholung der Weltkonjunktur, die 2021 eigentlich so stark wachsen sollte wie seit der Ölkrise in den 70ern des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr, ins Stocken geraten. Ursache ist vor allem der Mangel an Material, darüber hinaus Lieferprobleme, weil es zu wenig Containerkapazitäten auf Schiffen und Lkw-Fahrer gibt.
Darunter leidet ein exportstarkes Land wie Deutschland besonders. Im Oktober war die Industrieproduktion hierzulande nur noch um 2,8 Prozent gegenüber dem Vormonat gestiegen. Von einer echten Erholung, wie sie prophezeit worden war, konnte da schon längst keine Rede mehr sein. „Zu schwer belasten die anhaltenden Lieferengpässe die Unternehmen des produzierenden Gewerbes, deren aktuelle Produktion rund zehn Prozent unter dem Niveau liegt, das angesichts der Auftragseingänge zu erwarten wäre“, sagt Ulrich Stephan, Chefanlagestratege der Deutschen Bank.
Besonders eklatant fällt die Diskrepanz mit rund 40 Prozent bei Deutschlands Autokonzernen aus. Aber auch die Maschinen- sowie Elektrotechnikproduktion sind überdurchschnittlich stark betroffen. „Ein insgesamt spürbar schwächeres oder sogar stagnierendes Wirtschaftswachstum im aktuellen und im ersten Quartal 2022 halte ich daher für möglich“, so Stephan.
Das Münchener Ifo-Institut spricht in diesem Zusammenhang von einer „Flaschenhals-Rezession“. Auf der einen Seite hat sich der Materialmangel in der deutschen Industrie im November verschärft. 74,4 Prozent der Firmen klagten nach einer Umfrage des Wirtschaftsforschungsinstituts über Engpässe und Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen. Die deutsche Autoindustrie wird in diesem Jahr voraussichtlich fast ein Fünftel weniger Fahrzeuge herstellen als im vergangenen Jahr. Das wären dann so wenige wie zuletzt 1975.
Auch dürfte es zu Beginn des neuen Jahres erst einmal schlimmer werden, bevor sich die Lage entspannt. Das erwarten 70 Prozent der Großhändler, wie der Branchenverband BGA in einer Umfrage unter seinen Firmen ermittelt hat. Nur bei drei Prozent der Großhändler ist demnach die Versorgung mit Rohstoffen und Vorprodukten aktuell gesichert. 44 Prozent der befragten Unternehmen sprachen hingegen von „massiven Versorgungsproblemen“. Demnach fehlt es an Elektronikteilen und Baumaterialien, aber auch an chemischen Stoffen und Verpackungen.
Aber mit Blick auf das Gesamtjahr verheißt das auch viel Gutes. Viele Lieferengpässe sind zeitlich eng begrenzt und werden sich auflösen, wie etwa der Mangel an Holz und Altpapier.
Infolgedessen sollten sich ab dem zweiten Quartal die Lieferketten normalisieren, wovon die große Mehrheit der Unternehmen ausgeht, und die Infektionslage insgesamt entspannen, dann dürfte auch die deutsche Industrie mit nach wie vor vollen Auftragsbüchern die zu erwartende Erholung der deutschen Wirtschaft vorantreiben.
Denn die weltweite Nachfrage ist ungebrochen groß, und nur deshalb kommt es zu Lieferschwierigkeiten. Insofern verschieben sich viele Aufträge, Umsätze und Gewinne, die eigentlich für das laufende Geschäftsjahr eingeplant waren, auf 2022. Und daher hat sich für die meisten Unternehmen und Branchen die Perspektive aufgrund des enormen Rückstaus in der Industrie verbessert.
Die guten Perspektiven der meisten Branchen für das neue Jahr erklären sich darüber hinaus aus dem globalen Investitionszyklus, der wieder einsetzt, und verbesserten Exporterwartungen.
Schon vor Ausbruch der Pandemie hatten die Unternehmensinvestitionen weit hinterhergehinkt und waren die Ausgaben für Maschinen und andere Ausrüstungsgüter eher gering. Um den langfristigen Trend wieder zu erreichen, fehlen in Deutschland etwa zehn Prozent.
Die Hälfte der vom IW befragten Verbände rechnet 2022 mit höheren Investitionen in ihrem Bereich gegenüber dem Vorjahr, darunter sind auch Branchen wie die Bauwirtschaft, die während der Pandemie weniger oder gar nicht gelitten haben. „In vielen Branchen stehen hohe und steigende Investitionen an, wenn es um neue Geschäftsprozesse, Klimaneutralität, Strukturwandel und digitale Transformation geht“, sagt IW-Chef Hüther.
Besonders innerhalb des Servicesektors hellt sich das Investitionsklima auf. Hier gibt es keinen Verband, der für seine Unternehmen rückläufige Investitionen ausmacht.
„Ich erwarte ein starkes Wachstum der Unternehmensinvestitionen, sobald die mit der Pandemie verbundene Unsicherheit nachhaltig abflaut“, sagt Chefanlagestratege Stephan.
Die Rahmenbedingungen dafür sind trotz Materialmangel günstig: Dank der hohen Nachfrage sind die Produktionskapazitäten ausgelastet, „und die finanziellen Voraussetzungen könnten angesichts niedriger Zinsen sowie hoher Liquiditätsreserven der Unternehmen kaum besser sein“, sagt Stephan.
Das bestätigen rekordhohe Bargeldbestände: Mit 688 Milliarden Euro horteten deutsche Unternehmen im November so viel Liquidität wie noch nie. Aber: Das Geld schmilzt dahin, denn es wird auf den Bankkonten unter Einberechnung der Inflation mit durchschnittlich minus 4,6 Prozent verzinst. Das zeigen Daten der internationalen Kanzlei Freshfields, die dem Handelsblatt vorliegen. Grundlage sind Bundesbank-Statistiken über die Einlagen von rund 1,3 Millionen Unternehmen.
Für Wachstumsimpulse sorgen zudem umfangreiche staatliche Infrastrukturprogramme, unter anderem für den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft. Vor allem deutsche Maschinenbauer dürften aufgrund ihres hohen Exportanteils von 80 Prozent zu den Gewinnern eines globalen Investitionsbooms zählen.
Die Motive für Investitionen sind nach Analyse des IW gleichwohl sehr unterschiedlich: Zum einen gibt es Bereiche, die wegen der schlechten Ausgangslage zuversichtlich sind. Das gilt für viele Dienstleistungen wie das Gastgewerbe und den Tourismus. Also Bereiche, die während der Pandemie am schwersten vom Stillstand betroffen waren.
In der Industrie hingegen sind die Investitionen bei vielen Unternehmen ohnehin bereits hoch, sodass etliche Branchen wie Chemie und Pharma „nur“ mit einer Stagnation rechnen. Das bedeutet aber keine Schwäche, sondern oftmals weitere Ausgaben auf Rekordhöhe, so besonders bei den Autobauern, die den Umbau zur Elektromobilität stemmen müssen.
Angesichts steigender Erwartungen für Produktion und Investitionen rechnen 21 der 48 befragten Verbände mit einem Plus bei der Beschäftigung. Dazu zählen viele Industriesparten wie die Pharma-, Metall- und Elektroindustrie. Der Dienstleistungssektor will etwa in den Bereichen Spedition, Investment und Leasing, Informations- und Werbewirtschaft im kommenden Jahr zusätzliche Mitarbeiter einstellen.
In der Bauwirtschaft und im Handwerk suchen die Unternehmen ohnehin händeringend nach Personal. Das gilt auch für Deutschlands Maschinenbauer. Sie sind besonders stark vom Fachkräftemangel betroffen.
Die Mehrheit der 356 im November befragten Personalverantwortlichen sieht Engpässe in allen Beschäftigtengruppen mit Ausnahme der Hilfskräfte, wie der Branchenverband VDMA kürzlich ermittelte. Dies treffe insbesondere auf Akademiker (81 Prozent) und Fachkräfte (90 Prozent) zu. Damit hat sich die Lage vor allem unter den Fachkräften seit der Befragung im Juni nochmals verschärft.
Vier von fünf Befragten (82 Prozent) wollen in den kommenden sechs Monaten die Stammbelegschaft aufstocken und suchen dafür qualifiziertes Personal. Dieses 2022 und in den Jahren danach ausreichend zu finden, wird nicht einfach sein. IW-Chef Hüther prognostiziert: „Wenn ab 2025 das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft, stellt sich das Fachkräftemangelproblem noch sehr viel mehr als 2022.“
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