Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

13.12.2018

22:00

Politiker des Jahres

Annalena Baerbock und Robert Habeck – Doppelspitze mit Emotion und Substanz

Von: Sigmar Gabriel

Unterstützen statt belauern: Die Spitze der Grünen ergänzt sich in wichtigen Punkten – davon profitiert die Partei. Sie sind die Politiker des Jahres.

Julius Brauckman, Daniel Hofer/laif [M]

Wer immer auch über die politischen Persönlichkeiten des Jahres 2018 schreibt, am Spitzenduo der Grünen kommt niemand vorbei. Robert Habeck und Annalena Baerbock sind die bundespolitischen Newcomer und Aufsteiger dieses in jeder Art und Weise bewegten Jahres.

Fragt man nach den Gründen für den grünen Höhenflug, ist man schnell bei den beiden Vorleuten, die sich als unverhoffter Glücksgriff der grünen Basis erweisen. Ein Hinweis darauf, dass auch bei den Grünen die Mitglieder gelegentlich rationaler (normaler) ticken als ihre Funktionsträger. Ein Beispiel, dass sich auch andere Parteien merken sollten.

Annalena Baerbock und Robert Habeck ist in diesem Jahr gelungen, die Grünen als „neue Volkspartei“ im bundesdeutschen Parteiensystem zu verankern. Und erstmals in der Geschichte der Grünen hat man den Eindruck, dass es wirklich eine „Doppelspitze“ gibt, die sich politisch, habituell und intellektuell unterstützt, statt sich zu belauern und nur auf die Fehler des anderen zu warten.

Baerbock und Habeck ist die Entgiftung ihrer Parteispitze gelungen. Erstmals in der jüngeren Geschichte der Grünen wird dort wieder miteinander geredet statt nur auf Aus- und Abgrenzung zu setzen, hört man anerkennend aus dem Innenleben der Grünen.

Und Baerbock und Habeck widerlegen das landläufige Vorurteil, dass Frauen den Instinkt und die Emotion mitbringen und Männer den Kopf. Wie alle anderen Menschen haben auch Baerbock und Habeck gewiss beides, aber es fällt doch auf, dass sie meist mit politischer Substanz argumentiert und er vor allem emotionale Wirkung entfaltet.

Der Politiker war von 2009 bis 2017 Bundesvorsitzender der SPD. Er hat also noch die Zeiten erlebt, als die Sozialdemokraten in den Umfragen und Wahlergebnissen vor den Grünen lagen und sich noch Volkspartei nennen konnten. Von Dezember 2013 bis März 2018 war Gabriel Vizekanzler, von Dezember 2013 bis Januar 2017 Bundeswirtschaftsminister, dann bis zum März 2018 Bundesaußenminister. dpa

Über den Autoren Sigmar Gabriel

Der Politiker war von 2009 bis 2017 Bundesvorsitzender der SPD. Er hat also noch die Zeiten erlebt, als die Sozialdemokraten in den Umfragen und Wahlergebnissen vor den Grünen lagen und sich noch Volkspartei nennen konnten. Von Dezember 2013 bis März 2018 war Gabriel Vizekanzler, von Dezember 2013 bis Januar 2017 Bundeswirtschaftsminister, dann bis zum März 2018 Bundesaußenminister.

Bei Habeck kann es schon mal passieren, dass er eine Hartz-IV-Reform fordert, die mal eben 30 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich kosten würde und deshalb selbst bei einer grünen Alleinregierung schlicht unbezahlbar bliebe.

Baerbock dagegen macht sinnvolle und bezahlbare Vorschläge, um im Alltag vorhandene Probleme anzupacken: zum Beispiel den Soli nicht abzuschaffen, sondern umzuwandeln in eine Förderung kleiner Gemeinden in West- und Ostdeutschland, die Gefahr laufen, nicht einmal mehr eine Bushaltestelle vor Ort zu haben, von Schulen, Ärzten, Apotheken oder Einkaufsgelegenheiten ganz zu schweigen. Habeck und Baerbock ergänzen sich nahezu perfekt: Wo er Menschen emotional fischt, sorgt sie für den

Kompass an Bord. Wo er den richtigen Riecher hat, unterlegt sie beider Politik mit Substanz. Wo er schillernd wirkt, signalisiert sie Tiefe.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Erfolg der Grünen nicht nur mit ihrem neuen Führungsduo zu tun hat, sondern dass diese beiden Protagonisten stark von den politischen Umfeld-Bedingungen profitieren, in denen sich unser Land befindet:

Erstens: Der Fehlstart, die Selbstblockade und der totale Kommunikationsausfall der sogenannten Großen Koalition. Von dieser politischen Mesalliance wird kein Zauber mehr ausgehen, so gut die Gesetzgebungsarbeit auch weiter sein möge.

Wollten die Wahlbürger schon im Herbst 2017 einmal eine andere Koalition ausprobieren – die amtierende Not-GroKo liefert ihnen inzwischen täglich und nachträglich die Gründe dafür. Zwar regieren die Grünen in Bundesländern mit, aber es gelingt ihnen, ihre Mitverantwortung unterhalb des bundespolitischen Radars zu halten.

So können sie einerseits in Baden-Württemberg mit ihrem grünen Ministerpräsidenten die Premiumklasse der deutschen Automobilindustrie unterstützen, gleichzeitig aber im Hambacher Forst für den Klimaschutz Bäume besetzen. Und so können Grüne unbemerkt (und ungestraft) zusammen mit den anderen Raubrittern aus den Bundesländern den Bundeshaushalt plündern und trotzdem eine der wichtigsten Bildungsreformen im Bundesrat stoppen, bei der endlich das Elend beendet werden sollte, dass der Bund sinnvolle Bildungsvorhaben voranbringen kann.

Zweitens: Vielleicht war es der Jahrhundertsommer 2018, vielleicht waren es die Proteste im Hambacher Forst, vielleicht der erbitterte Streit zwischen CDU und CSU über die Asylpolitik, vielleicht der sich nun ins vierte Jahr hinziehende Dieselskandal, den offenbar der Staat nicht in den Griff bekommt, vielleicht das in diesem Jahr breit debattierte Artensterben von Schmetterlingen und Bienen, vielleicht auch die Ballung und Mischung von allem: Die Grünen hatten zu all diesen bewegenden Themen eine eindeutige Haltung und waren nicht zerrissen wie die Konkurrenz.

Mit ihrer Klarheit und Konzentration auf den ureigenen Feldern grüner Politik von Klimaschutz/Nachhaltigkeit und Weltoffenheit/Willkommenskultur sind die Grünen für diejenigen, die unzufrieden mit der Koalition sind, die demokratische Alternative zu den autoritären Nationalisten und Populisten von rechts, die bei uns von der AfD organisiert werden.

Drittens: Doch die Ursachen für den Stimmungswandel im Parteiensystem liegen noch tiefer. Das hat mit den Strukturveränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft in den vergangenen Jahren zu tun, die in der Breite, Tiefe und Geschwindigkeit in der Geschichte ohne Beispiel sind. Die Bio-Lebensmittelabteilungen im Einzelhandel werden stetig größer; das Auto verliert seine Status-Kraft und wird ersetzt von schlichten Mobilitätsbedürfnissen.

Wald, Natur und Landleben bilden auf Bestsellerlisten, im Zeitschriftenhandel sowie im Internet und in Blogs als Themen und Lebensform inzwischen die realisierbaren Sehnsüchte von Millionen Menschen ab. Die Postindustrialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hat erkennbar gesiegt. Und keine Partei steht dafür so emblematisch und eindrücklich wie die Grünen. Grün ist heute nicht nur die Farbe einer politischen Partei, sondern zugleich Slogan und Farbe von Unternehmens- und Werbekampagnen.

Wer will heute schon noch die Zukunft rot, schwarz, gelb oder blau malen? Es erscheint rückblickend geradezu genial, dass sich die Gründergeneration der Grünen für diese Farbe als Symbol entschieden hat und nicht für eine Buchstabenabkürzung.

Viertens: Es gibt im aktuell gewählten Bundestag nur drei Parteien, die wirklich regieren wollen: die beiden Unionsschwestern und die Grünen. Alle übrigen Parteien sind dazu nur unter Schmerzen und Bedingungen bereit: die FDP nur ohne Merkel, die Linkspartei nur, wenn SPD und Grüne den demokratischen Sozialismus in einen Koalitionsvertrag schreiben würden, die AfD, wenn Merkel und sämtliche Ausländer weg wären und anderer Unsinn mehr veranstaltet würde – und meine Partei, die SPD, leidet erkennbar am Regieren, wie sie auch am Opponieren leiden würde.

Der grüne Aufstieg und die Riten der Medien

Dagegen hätten die Grünen sogar in Bayern mit Markus Söder eine Koalition gebildet – die „neuen“ Grünen kennen keine politischen Berührungsängste mehr. Zu diesen säkularen Strukturveränderungen in der bundesdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft und den aktuellen Verhaltensmusterveränderungen der politischen Parteien passt das grüne Führungsduo beinahe wie in einem perfekten Casting für einen Gute-Laune-Film, auch wenn die Zeiten unsicherer geworden sind.

Mit Habeck und Baerbock sind erstmals zwei Realos an der Parteispitze, was bei den Grünen schon einer mittleren Revolution gleichkommt. Sie sind pragmatisch, flexibel, gewinnend, freundlich und zugewandt. Hinzu kommt: Sie wissen um die Kraft und Reichweite von Medien, sehen cool und lässig aus und präsentieren sich auch so.

Die Bedingungen des grünen Aufstiegs und die seiner beiden Protagonisten hängen also untrennbar miteinander zusammen. Und die Riten der aufmerksamkeitsorientierten Mediengesellschaft tun ihr Übriges.

Nicht nur der Lebenshintergrund der beiden Vorsitzenden wird genüsslich nacherzählt, auch das Ungewöhnliche der beiden, die so seltsam schwebend und frisch wie vital den ausgelaugten sterilen Berliner Politikbetrieb mit seinen sattsam bekannten Figuren und Gesichtern durcheinanderwirbeln, ist den Kommentatoren jede Metapher wert, der sie habhaft werden können. „Ein Philosoph mit Machtinstinkt“ wird Robert Habeck , der als promovierter Philologe seinen Erstberuf Schriftsteller nennt, beschrieben, und Annalena Baerbock sieht sich nicht ungern als „Zuhörerin und Zuspitzerin“, die aber auf Werte und Haltung wert legt. Die entscheidende Frage ist: Wie lange hält der Höhenflug an?

Schon jetzt zeigen sich erste leichte demoskopische Ermüdungserscheinungen. Noch weiter als 22 Prozent scheint es nicht zu gehen. Vielleicht ist der Zenit der Grünen bereits erreicht. Das Wahlvolk wird inzwischen schnell mürrisch, und die wirtschaftlichen Aussichten scheinen sich aktuell und prospektiv etwas verhaltener zu entwickeln.

Es braucht Klarheit und Robustheit

Die globalen Unsicherheiten mehren sich: bilaterale Handelsstreitigkeiten, Anhalten und Verschärfungen von politischen Krisen, kontinentale Gewichtsverschiebungen und die ungelösten Fragen von Migration sowie der anhaltende autoritäre Rechtsruck in vielen Demokratien tun ihr Übriges.

Die weltweite Lage wird neue Klarheiten und Robustheiten von allen Akteuren verlangen – und das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was derzeit von den Grünen symbolisiert wird. Noch sind Annalena Baerbock und Robert Habeck Projektionsflächen. Spätestens in einer Bundesregierung werden Projektion und Realität von den Wählern verglichen und bewertet.

Ob die Grünen und ihr Spitzenduo sich bei diesen Veränderungen in ihrer demoskopischen Hausse halten können? Ob sie angesichts einer Welt voller Fleischfresser die Härte eines Joschka Fischer ertragen können? Wer weiß das schon am Ende des Jahres 2018? Ein Newcomer-Paar kann auch ein Newcomer-Paar bleiben und weiterhin Strahlkraft erzeugen. Aber es kann auch eine Normalisierung eintreten und ein langsamer Rückgang in übersichtliche Gefilde.

Dazu passt eine Geschichte aus dem „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1845, nämlich die Geschichte vom „Fliegenden Robert“, der mit Hut und Schirm bewaffnet, den Stürmen trotzt und sich draußen im Land umhertreibt, wie es auch Robert Habeck in diesem Jahr mit seiner Sommerreise getan hat – im Übrigen die einzige eines Spitzenpolitikers, die wirklich registriert wurde von den Medien! Doch das Ende vom „fliegenden Robert“ ist ein offenes: „Schirm und Robert fliegen dort / durch die Wolken immerfort. / Und der Hut fliegt weit voran, / stößt zuletzt am Himmel an. / Wo der wind sie hingetragen, / ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×