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13.12.2018

22:04

Taktische Meisterleistung des Jahres

Angela Merkel – Die siegreiche Sphinx

Von: Thomas Tuma

Angela Merkel gibt bei der CDU anderen den Vortritt und verzichtet zum Teil auf ihre Macht. Genau das ist ihr ebenso überraschender wie später Triumph.

Julius Brauckmann, Reuters [M]

Man tut so etwas eigentlich nicht. Mann nicht. Angela Merkel schon. Auch wenn nicht mal sie so genau überblickt haben dürfte, wie viel Vergnügen ihr ausgerechnet der Verzicht auf einen Teil ihrer Macht bereiten würde, nachdem sie am 29. Oktober vor die Kameras trat.

In Hessen hatte ihr Parteifreund Volker Bouffier für die CDU gerade krachend eine weitere Landtagswahl verloren. Die Kanzlerin wirkte angeschlagen zwischen all den teils irrlichternden Alphawölfen um sie herum. SeehoferMaaßenGauland, aber auch TrumpErdoganPutin hatten ihr mit der Herzlichkeit von Abrissbirnen das Leben und Regieren schwer gemacht. Der Regierungspartner SPD war derweil überwiegend damit beschäftigt, sich selbst zu zerfleischen.

„Inakzeptabel“ sei der Zustand der Großen Koalition zuletzt gewesen, sagte Merkel und kündigte an, dass sie nicht mehr für den CDU-Parteivorsitz kandidieren werde. Man tut so etwas eigentlich nicht. Man gibt nicht einfach Macht ab. Mann nicht. Merkel schon.

Die Stimmen zum Teil-Rücktritt lasen sich zwar bereits wie Nachrufe, waren aber doch plötzlich wieder von großem Respekt geprägt. Nicht nur die „Financial Times“ lobte die „Niederlage in Würde“ als „Rarität unter Politikern“.

Man werde dem „historischen Giganten“ Merkel noch „nachtrauern“, schrieb der „Corriere della Sera“. Alle waren sich einig, dass der Schritt zugleich der Anfang vom Ende ihrer Kanzlerschaft sei. Auch Merkel selbst, die sofort erklärte, spätestens zum Ende der Legislaturperiode 2021 Platz machen zu wollen im Kanzleramt.

Thomas Tuma ist Vizechefredakteur des Handelsblatts und zugleich Chef des Handelsblatt Magazins, nachdem er zuvor viele Jahre für den „Spiegel“ aktiv war. Er hat auch schon CDU gewählt – wegen Merkel. In der Flüchtlingskrise indes hat die Kanzlerin nicht nur seine Unterstützung verloren. Andreas Chudowski für Handelsblatt

Der Autor

Thomas Tuma ist Vizechefredakteur des Handelsblatts und zugleich Chef des Handelsblatt Magazins, nachdem er zuvor viele Jahre für den „Spiegel“ aktiv war. Er hat auch schon CDU gewählt – wegen Merkel. In der Flüchtlingskrise indes hat die Kanzlerin nicht nur seine Unterstützung verloren.

Aber selbst die gelernte Physikerin, die Merkel als Politikerin ja immer geblieben ist, konnte nicht berechnen, welche Reaktionen sie mit ihrer Entscheidung entfesseln würde: dass ausgerechnet ihr Verzicht der müde regierten CDU für viele Wochen und Regionalkonferenzen neues Leben einhauchen würde. Dass am Ende ihre schärfsten parteiinternen Widersacher – von Jens Spahn über den ewig lauernden Friedrich Merz bis zu Wolfgang Schäuble – in ihre Schranken verwiesen oder gar erledigt sein würden.

Und dass sie dann, beim Schicksals-Parteitag am 7. Dezember, sogar triumphal ihre Wunsch-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer würde beglückwünschen können.

Selten war ein Machtverlust so gewinnbringend. „Es ist unklug, immer den Sieg davontragen zu wollen“, wusste schon vor einem halben Jahrtausend der italienische Philosoph Machiavelli. Divide et impera eben. Aber die Kluft ist ja doch oft groß zwischen Theorie und Realpolitik. Und auch der Preis für Merkels späten Triumph ist hoch: Die CDU ist nach dem internen Wahlkampf gespaltener denn je. Der Wirtschaftsflügel wirkt wie gelähmt, während in Ostdeutschland desaströse Landtagswahlen drohen.

Nicht getrieben, sondern gelöst

Zugleich muss man feststellen: Merkels halber Abschied hat eine geradezu kathartische Wirkung entfaltet. Und die 64-Jährige war plötzlich nicht mehr die Getriebene, sondern konnte sich in aller Ruhe den Kampf ihrer potenziellen Nachfolger anschauen – so gelöst, wie man sie selten zuvor erleben durfte.

18 Jahre lang hat Angela Dorothea Merkel, geb. Kasner, die CDU angeführt. Seit 28 Jahren sitzt sie im Bundestag. 13 Jahre ist sie nun Kanzlerin. Als sie 2005 gegen Gerhard Schröder gewann (der das selbst am Wahlabend nicht wahrhaben wollte), gab es noch kein Instagram, Tesla, Uber oder iPhone, Künstliche Intelligenz war was für „Star Trek“-Fans.

Es war eine andere Zeit und eine andere Welt – ohne chronische Shitstorms und Fake News, ohne wirklich relevante Rechts-Separatisten, Finanz- sowie Europa-Krise und den polterigen Neo-Protektionismus eines Donald Trump und all seiner Adepten.

Es war eine noch von sehr alten und allenfalls gönnerhaften Herren dominierte Ära. Was musste sich Merkel damals alles anhören: Mal war sie nur Helmut Kohls „Mädchen“, mal die „Zonenwachtel“. Sie ertrug das alles und trug zugleich das Ihre dazu bei, dass diese Ära endete. Sie selbst war ja durchaus Neuland für die alte, butzenscheibige Honoratioren-Republik: als Frau, als Ostdeutsche, als gelernte Naturwissenschaftlerin.

Viele der Regierungschefs, die Merkel dann in ihren Kanzlerjahren traf, überlebten eben auch wegen akut gockelhafter Präpotenz nicht lange: in Frankreich Nicolas Sarkozy oder François Hollande. In Italien Silvio Berlusconi. Merkel dagegen blieben Gefühle und Getue immer fremd, während sie Deutschland mit dem Enthusiasmus einer Eieruhr durch Finanz-, Schulden- und Europakrise bugsierte.

Politik betreibt sie bis hart an den Rand der Selbstverleugnung, „fast desinteressiert an der eigenen Außenwirkung“, wunderte sich die „FAZ“. Ihre Raute wurde zum Banner des Pragmatismus. Mehr Demoskopie als Demokratie. Eigentlich regiert Merkel wie ein Google-Algorithmus. Es geht um Mehrheiten, nicht um Visionen.

Man kann das vernunftgesteuert nennen und unbestechlich, aber auch technokratisch und kalt, zumal man nie so genau wusste, was sie eigentlich selbst will. Ob sie überhaupt einen Gestaltungsplan für Deutschland hat. Oder wofür sie wirklich steht – außer für den eigenen Überlebenswillen.

Für die einen wurde sie durch diese undurchschaubare, sphinxhafte Ruhe zur „Mutti“, für die anderen zur „Hexe“, die endlich wegmüsse. Um in Merkels analytischem Duktus zu bleiben: Spätestens seit 2015 entwickelte sich der Respekt der Bundesbürger für ihre Regierungschefin umgekehrt proportional zur Zahl der Flüchtlinge in Deutschland.

Ironischerweise war ihre Entscheidung zur Öffnung der Grenzen neben der zum Atomausstieg nach der Reaktor-Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 die einzige spontane, die Merkel jemals gefällt hat.

Mit beiden hat sie der Republik viel abverlangt. Ihr Umgang mit den Flüchtlingen hat die Bundesbürger, aber auch die europäischen Nachbarn schlicht überfordert, was sich in immer mühsameren Kämpfen auf dem Brüsseler Parkett und immer düstereren Wahlergebnissen zu Hause widerspiegelte.

Und jetzt? Auf dem Hamburger Parteitag sagte Merkel, dass sie immer bestrebt gewesen sei, ihre Ämter mit Würde zu tragen, aber auch mit Würde abzugeben. Neben Benedikt XVI., der im Vatikan seinen Lebensabend genießt und das göttliche Tagesgeschäft seinem Papst-Nachfolger Franziskus überließ, ist Merkel nun eine der wenigen, die Macht abgaben und dennoch gewannen – und sei es nur persönlichen Spielraum. All ihre Kanzler-Vorgänger scheiterten am Ende elend … an der politischen Konkurrenz, der eigenen Partei oder auch an sich selbst.

Merkel könnte in dieser Galerie die Erste sein, die selbst entscheidet, wann Schluss ist. Man tut so was eigentlich nicht. Mann wird lieber aus der Arena getragen oder geprügelt. Respekt, Frau Merkel!

Lesen Sie in unserem 35-seitigen Dossier „Menschen des Jahres 2018“, wer in diesem Jahr Großes geleistet hat, wer überrascht oder enttäuscht hat.

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