Seine zehn Restaurants sind wegen der Coronakrise geschlossen. Jetzt versucht der Berliner Promikoch, sich mit einem Bringdienst über Wasser zu halten.
Tim Raue
Der bekannte Koch bereitet derzeit nur Aufwärmbares zu.
Bild: Dominik Butzmann für Handelsblatt
Düsseldorf Vier Stunden Schlaf die Nacht müssen für Sternekoch Tim Raue in Zeiten von Corona reichen. Um vier Uhr morgens fängt sein Tag an. Bis kurz vor drei Uhr nachmittags steht er in der Küche seines Restaurants „Tim Raue“ in Kreuzberg. Statt achtgängigen Edeldinners für 228 Euro gibt es seit einer Woche ein Drei-Gänge-Menü für 68 Euro – wahlweise zum Abholen oder Liefern.
„Die Krise hat uns mit unfassbarer Wucht getroffen“, erzählt der Starkoch. Seit der Corona-Pandemie sind alle zehn Restaurants, die er betreibt, geschlossen „Ohne Gäste ist der Ofen bald aus“, fürchtet der 46-Jährige.
Seine 37 Mitarbeiter im „Tim Raue“, das mit zwei Michelin-Sternen und 19,5 Punkten im Gault & Millau ausgezeichnet ist, sind in Kurzarbeit. „Ich bin der Bundesregierung unglaublich dankbar, dass es nun auch Kurzarbeitergeld in der Gastronomie gibt“, sagt Raue. Allerdings reichten 60 Prozent von Gehältern, die im Schnitt zwischen 2200 und 2400 Euro brutto liegen, kaum aus. „Das ist nahe der Armutsgrenze“, meint er.
Mit dem neuen Abhol- und Liefergeschäft will er vor allem das Kurzarbeitergeld seiner Mitarbeiter aufstocken. „Fuh King Great“ hat er den Service genannt, den er in nur einer Woche auf die Beine stellte: eine Anspielung auf den asiatischen Stil seiner Küche und zugleich Motivationsspruch für die Belegschaft. „Wenn du am Boden liegst, geh raus, zeig ein Lächeln und gib dein Bestes für die Gäste“, lautet Raues Credo. „In den dunkelsten Tagen des Lebens lernst du am meisten.“
Die coronabedingten Zwangsschließungen treffen Restaurants besonders hart. „Die Zukunft vieler der 223.000 Unternehmen des Gastgewerbes mit über 2,4 Millionen Erwerbstätigen ist akut bedroht“, warnt Guido Zöllick, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga). Selbst Starköche von Tim Mälzer bis Tim Raue kämpfen derzeit mit ihren Restaurants ums Überleben – da hilft auch der Promibonus nur wenig.
Raue ist erfahren darin, sich von ganz unten hochzukämpfen. In einfachen Verhältnissen wuchs das Scheidungskind in Berlin-Kreuzberg auf. Siebenmal wechselte er die Schule, schloss sich der berüchtigten Jugendgang „36 Boys“ an. Vom Gettokind bis zum Starkoch war es ein steiniger Weg, wie er in seiner Biografie „Ich weiß, was Hunger ist“ schreibt.
Raue machte eine Kochlehre unter anderem im Grunewald, wo er seine erste Frau Marie-Anne Raue kennen lernte, bis heute seine enge Geschäftspartnerin. 2002 wurde das Kochtalent Küchenchef im Restaurant 44 im Berliner Swissôtel. Der Restaurantführer Gault & Millau kürte ihn 2007 zum „Koch des Jahres“. Ein Jahr später eröffnete er hinter dem Hotel Adlon drei asiatisch inspirierte Restaurants. Das „Ma“ erhielt einen Michelin-Stern.
2010 gründete Raue in seinem alten Kiez sein eigenes Lokal „Tim Raue“. Als einziges Restaurant in Deutschland rangiert es unter den „The World’s 50 Best Restaurants“ – zuletzt auf Platz 40. Als kulinarischer Berater betreut Energiebündel Raue auch die „Brasserie Colette Tim Raue“ in München, Konstanz und Berlin und die „Villa Kellermann“ von Günther Jauch in Potsdam. 2016 entstand das asiatische Restaurantkonzept „Hanami“ für die Kreuzfahrtdampfer „Mein Schiff“. In St. Moritz zeichnet er verantwortlich für das Restaurant „The K“.
Als einziger deutscher Starkoch wurde der Berliner in der Netflix-Serie „Chef’s Table“ verewigt. Außerdem tritt Raue in TV-Shows wie „Kitchen Impossible“ und „Ready to Beef“ mit Kochkollege Tim Mälzer auf. Mälzer sagte über seinen Freund in einem Interview: „Ich bewundere seinen Ehrgeiz extrem, sich dem Leben zu stellen, sich aus der Komfortzone zu bewegen.“
In der Coronakrise muss sich Raue nun als Lieferheld beweisen. Er bereitet Aufwärmbares zu, statt frisch zu servieren. „Wir kochen einen wilden Mix von zwölf unserer beliebtesten Gerichte“, sagt Raue. Als Vorspeise gibt es etwa Ikarimi Lachs-Sashimi, zum Hauptgang Königsberger Klopse und als Dessert Yuzu Cheesecake. Bis 17 Uhr können die Gerichte bestellt werden. Sie werden dann gekocht, gekühlt und am nächsten Tag ausgeliefert – in kompostierbarer Verpackung. „Das Hauptgericht muss nur noch zwei Minuten in die Mikrowelle.“
500 Lieferungen am Tag hatte Raue zuletzt. „Ein Abenteuer“, räumt der Gastronom ein. „Statt mit einem massiven Schlauchboot mussten wir mit einem Gummischwan in die unternehmerischen Fluten springen.“ Das alles koste unglaublich viel Kraft.
Vom Land Berlin gibt es für uns nichts. Da blicken wir schon neidisch auf Bayern. Tim Raue, Gastronom
Doch der Bringdienst kann das Gastgeschäft nicht ersetzen. Und die Miete im fünfstelligen Bereich fällt weiter an. Unternehmen wie Deichmann oder H&M, die nun teilweise keine Miete mehr zahlen wollen, hält Raue für verantwortungslos. Einen Kredit bei der KfW hat er bereits beantragt. „Der kann uns vier bis fünf Monate über Wasser halten“, hofft er. Allein würde die GmbH maximal sechs bis acht Wochen überleben. Und das, obwohl er sehr gut gewirtschaftet habe.
Sein Sternerestaurant vergleicht er mit einem Fußballklub in der Champions League. „Der mag zwar 100 Millionen Euro einnehmen, gibt aber 99 Millionen aus.“ Sein Restaurant „Tim Raue“ war immer über Monate ausgebucht. Das Geschäft brummte. „Jetzt fühlt es sich an, als wären wir aus dem Wolkenkuckucksheim gefallen.“
Raue ärgert sich, dass der Berliner Senat notleidende Gastronomen so wenig unterstütze. In einem offenen Brief an den Regierenden Oberbürgermeister Michael Müller (SPD) schrieb er mit anderen Restaurantbetreibern: „Das Wasser steht uns buchstäblich bis zum Hals. Erreichen uns nicht unkompliziert und schnellstmöglich Hilfsgelder, werden viele den April nicht durchhalten können.“ Die Gastronomen fordern etwa einen Notfallfonds, Steuererstattungen und Aussetzung der Insolvenzpflicht bis März 2021.
„Vom Land Berlin gibt es für uns nichts – da blicken wir schon neidisch auf Bayern“, sagt Raue. Auch in der Schweiz oder Österreich bekämen Gastronomen unbürokratisch bis zu zwei Millionen Euro an Darlehen. Dabei sei Berlins vibrierende Atmosphäre aus Kunst, Musik, Freiheit und Party nicht denkbar ohne die rund 20.000 gastronomischen Betriebe, meint der Sternekoch.
Nach der Quarantäne, ist Raue sicher, haben die Deutschen gehamsterte Nudeln mit Tomatensoße satt. „Köche und Kellner entreißen die Menschen mit ihrer kulinarischen Zuwendung aus dem Alltag“, sagt er. Die kulinarische Kultur habe sich in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt sehr positiv entwickelt.
Umso mehr bedauert er den herben Rückschlag, den die deutsche Gastronomie durch die Coronakrise erleide. Die Bürger sollten durch den Kauf von Gutscheinen oder den Bringdienst ihren lokalen Gastronomen helfen. Der erfolgsverwöhnte Sternekoch zeigt sich erschöpft und demütig: „Wir sind glücklich, wenn wir durch den Lieferservice die Insolvenz abwenden können und – vielleicht – mit einem blauen Auge davonkommen.“
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