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15.03.2023

22:00

Hall of Fame der Familienunternehmen

Aus dem Nichts zur Milliardenfirma: Wie Jürgen Heindl sich in der Papierindustrie durchgesetzt hat

Von: Anja Müller

PremiumIn kaum einer Branche ist es schwieriger, sich gegen die etablierten Unternehmen zu behaupten. Jürgen Heindl hat es dennoch geschafft – und die ganze Branche überrascht.

Der Chef des Wellpapp- und Papiergiganten Progroup zieht in die Hall of Fame der Familienunternehmen ein. Progroup AG [M]

Jürgen Heindl

Der Chef des Wellpapp- und Papiergiganten Progroup zieht in die Hall of Fame der Familienunternehmen ein.

Landau, Offenbach an der Queich In der Welt von Jürgen Heindl ist das Kleine manchmal genauso wichtig wie das Große. Er brauchte große Visionen, große Maschinen und große Investitionen, um als Unternehmer in der Papierindustrie erfolgreich zu sein. Aber auch ein gutes Gespür für kleine Kunden.

Seit 1991 schuf Heindl so mit der Progroup einen Wellpapp- und Papiergiganten, die Nummer drei in Europa bei Wellpappe und die Nummer fünf bei Papier. Ihm ist etwas gelungen, was man eher Selfmade-Unternehmern der Nachkriegszeit zuschreiben würde: aus dem Nichts ein Unternehmen für nachfolgende Generationen zu schaffen – und das in der Papierindustrie, einem Markt, in dem ausschließlich in riesigen Summen investiert und Innovation nicht besonders ernst genommen wird.

2021 erwirtschaftete die Progroup mehr als 1,3 Milliarden Euro Umsatz. Zwölf Wellpapp-Werke und die drei Papierfabriken gehören ebenso dazu wie ein Logistikunternehmen und 1700 Mitarbeitende in Deutschland, Frankreich, Tschechien, Polen, Großbritannien und Italien.

Und der Gründer ist nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer – sondern ein Mutmacher in der Papierindustrie. Martin Krengel, CEO der Wepa-Gruppe, die Marktführer bei Hygienepapieren aus Recyclingfasern ist, urteilt: „In dieser kapitalintensiven Branche hat er mit seinem konsequenten Businessmodell und mit seinem unternehmerischen Mut in kurzer Zeit Besonderes erreicht.“

Und Tom Rüsen, Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen, wünscht sich, dass es „weitere Jürgen Heindls gibt, die Tausende Arbeitsplätze schaffen und Branchen umkrempeln“. Doch was hat Jürgen Heindl umgetrieben, so große Risiken einzugehen?

2021 erwirtschaftete das Unternehmen mehr als 1,3 Milliarden Euro Umsatz.

Im Lager der Progroup

2021 erwirtschaftete das Unternehmen mehr als 1,3 Milliarden Euro Umsatz.

Heindl wächst auf einem Bauernhof im Odenwald auf. Das Leben dort bringt ihm drei Erkenntnisse ein: Erstens, die große Freiheit für Heranwachsende. Denn auf einem Hof ist immer jemand da, aber es wird sich nicht dauernd um die Kinder gekümmert. Zweitens, „die Arbeit wird dann gemacht, wenn sie anfällt“, sagt Heindl. Etwa, wenn es heißt, Heu ernten statt Schwimmbadbesuch. Und drittens, „die Arbeit wird immer im Team gemacht“, will heißen von der Oma bis zum Enkel packen alle mit an.

Der junge Jürgen lernt am Abendbrottisch, wo die Weizen- und Milchpreise notieren, und von seinem Onkel, dass Ingenieursein erstrebenswert und Unternehmertum ein Lebensziel sein kann.
So studiert er zunächst Elektrotechnik mit Schwerpunkt Softwareentwicklung/Nachrichtentechnik mit einem Stipendium der Bundespost in Dieburg und schließt ein Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Esslingen an.

Trainingslager Konzern

Der Unternehmer startet beim Papierhersteller PWA als Direktionsassistent, eine prägende, fordernde und bereichernde Zeit für Heindl, der insgesamt zehn Jahre dort arbeitet. Irgendwann bekommt er dort den Auftrag, eine Zellstofffabrik zu schließen und eine Wellpappfabrik aufzubauen – mit einer alten Maschine und „krachenden“ Anlaufverlusten.

Dann kommt die Ölkrise 1981, aber Jürgen Heindl will das Wellpapp-Werk nicht gleich wieder schließen, er ist inzwischen Werks- und Bereichsleiter und sucht Kunden, die er auch findet: Es sind mittelständische Verpackungshersteller, die über keine eigene Wellpappfabrik verfügen, also auf eine zuverlässige Lieferung angewiesen sind. Nach drei Jahren ist Heindls Werk das erfolgreichste Werk der Gruppe.

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Doch die Kollegen des inzwischen in den Vorstand berufenen Endzwanzigers ziehen nicht mit, die kreative Kundensuche auf andere Werke zu übertragen. Heindl lernt, „dass eine Profitcenterstruktur nicht funktioniert, weil ich als Vorstand den Bereichsleitern nichts vorschreiben konnte“. Er lernt darüber hinaus, dass die Papierindustrie ziemlich innovationsfeindlich ist, weil die sehr teuren Papiermaschinen, die auch mal ein paar Hundert Millionen Euro kosten und oft schon 40 Jahre laufen, dann gern noch 20 Jahre weiterlaufen sollen. „Das bremst Innovationen“, so die Beobachtung des inzwischen zweifachen Vaters.

Und er beschließt, Unternehmer zu werden, und will „nie wieder alte Werke sehen“, sondern immer auf die neuesten Technologien setzen. „Ein Plan“, der seine Frau Herta „vom ersten Augenblick an überzeugt hat“.

Große Pläne, kleiner Ordner, weiter Blick

Überzeugen muss Jürgen Heindl jetzt vor allem Geldgeber. Zugleich weiß er aber auch, was er braucht, um erfolgreich zu sein: komplette unternehmerische Verantwortung. „Mein Wissen ist 51 Prozent an dem künftigen Unternehmen wert“, sagt er.

Und so zieht er los, unterm Arm sein kleiner Ordner mit dem Businessplan für eine Wellpappfabrik und dem Nachweis, dass er seine Abfindung und Fördermittel mit einbringen will. Über die Sparkasse Mannheim findet der Unternehmensgründer drei stille Gesellschafter für die verbliebenen 49 Prozent. Das Wagnis Unternehmertum kann beginnen.

Er braucht auch Lieferanten, die ihm Maschinen und Steuerung liefern. Einfach ist das nicht, auch wenn er die Lieferanten der Branche aus seinen zehn Jahren im Konzern kennt. Viele riefen: „Heindl, das, was du willst, braucht keiner!“ Doch er überzeugt schließlich den Weltmarktführer für Wellpappanlagen, BHS aus Weiden, und die Steuerungsfirma Witron, das Gewünschte für das Projekt auf der grünen Wiese zu liefern.

Der Chef der Progroup gilt als Vorzeigeunternehmer.

Jürgen Heindl mit Daniela Schmitt, Wirtschaftsministerin von Rheinland-Pfalz

Der Chef der Progroup gilt als Vorzeigeunternehmer.

Sein früherer Arbeitgeber ist mit einem Mal sein potenziell größter Wettbewerber. Heindls Vorteil: Er kannte ihn besser als der sich selbst, ist der Unternehmer noch heute überzeugt. Dort dachte man, so glaubt Heindl, „mein Unternehmen geht in sechs Monaten pleite“. Man habe dort nicht verstanden, dass die Kunden einen zuverlässigen Lieferanten gebraucht haben, der sie ernst nimmt. Ein Wettbewerber sagt: „Was Jürgen Heindl gesehen hat, haben wir nicht gesehen.“

Die enge Kooperation mit den Kunden ist Teil des Geschäftsmodells, die Progroup wächst buchstäblich mit ihnen zusammen, indem manche Verpackungshersteller sich direkt neben den Heindl’schen Wellpappfabriken ansiedeln und umgekehrt. Sie können sich auf Heindls Versprechen verlassen, dass die Progroup nie selbst Verpackungen herstellen will.

Nachhaltigkeit folgt Nachdenklichkeit

Heindl denkt sehr offen, sehr weit und sehr strategisch – und nachhaltig. Sichtbar wird dies an der steten Erweiterung der Wertschöpfungskette und der Rückwärtsintegration: Von der Wellpappe her gedacht, steht das Papier für 70 Prozent der Kosten, und 70 Prozent der Kosten für Papier sind heute Energiekosten.

So baut Heindl 2001 die erste Papierfabrik – Investitionsvolumen 240 Millionen bei 85 Millionen Euro Umsatz. Und er will deutlich Wasser einsparen. Der Weg: den Wasserkreislauf schließen. Doch die Technik ist zu sensibel, Wasser tritt aus. Die Lösung dauert Monate, spart aber 80 Prozent Wasser.

Finanziert hat er sein Wachstum bis 2015 vor allem durch Bankenkonsortien, seitdem auch mit Anleihen. Heindls Fazit: „Der Kapitalmarkt ist Fitness für ein Familienunternehmen.“

Und Heindl überzeugte die Geldgeber immer wieder. Denn: Die Papierfabriken brachten ab 2001 die Versorgungssicherheit für die Wellpappwerke und das eigene Kraftwerk ab 2011 die Energie für die deutlich energieintensivere Papierproduktion, die bei Heindl zu 100 Prozent aus Recyclingpapier besteht.

Seit Anfang des Jahres nun leitet Heindls Sohn Maximilian das Unternehmen, der Vater selbst ist in den Aufsichtsrat gewechselt. Den Nachfolgeplan haben sie entworfen, da studierte Maximilian noch Wirtschaftsingenieurwesen in Karlsruhe. Viereinhalb Jahre arbeitete der Sohn beim Papiermaschinenhersteller Voith Paper, bevor er in den Vorstand der Progroup wechselte.

Die Stabübergabe ist bereits vollzogen. Progroup AG

Maximilian und Jürgen Heindl

Die Stabübergabe ist bereits vollzogen.

Tom Rüsen vom Wittener Institut für Familienunternehmen sagt: „Jürgen Heindl ist extrem vorausschauend und konsequent, nicht nur bei Innovationen, sondern auch bei der Nachfolgeplanung.“ Sichtbar wird es darin, dass Maximilian und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Vinzenz die Mehrheit am Unternehmen halten und der Vater nur noch wenige Anteile.

Vinzenz baut zudem seit zwei Jahren die Professionals Academy auf. Sie stärkt das Netzwerk zwischen der Progroup und den Kunden aus der Verpackungsindustrie durch Events, aber auch Wissen für Marktentwicklungen und zur Nachfolge in Familienunternehmen. Wenn Senior Jürgen zurückblickt, resümiert er: „Das Beste ist, dass unsere beiden Söhne in die Nachfolge gegangen sind.“

Wenn aus Mitarbeitenden und Geschäftspartnern Freunde werden

Zum Familienunternehmen Heindl gehört auch, dass Jürgen Heindl seine liebste Beschäftigung – das Reisen – nicht nur mit seiner Familie, sondern auch mit den Mitarbeitenden und Kunden teilt. Seine Strategie dabei: Vertrauen schaffen für künftige Wege.

Seit bald 30 Jahren gehören besondere Touren dazu, die Heindl anderen Belohnungen vorzieht, weil sie im Gedächtnis bleiben: „Ich will nicht, dass unsere Mitarbeiter die Welt nur aus dem Fernsehen kennen.“

Die Leidenschaft für das Reisen teilt der Unternehmer mit seinen Kunden und Mitarbeitern. Roger Koeppe

Jürgen Heindl und Sohn Vinzenz auf dem Motorrad

Die Leidenschaft für das Reisen teilt der Unternehmer mit seinen Kunden und Mitarbeitern.

Der Unternehmer, der einst mit dem VW-Bus bis nach Indien fuhr, reist seit fast 25 Jahren auch mit den Kundenunternehmern. Es sind große Reisen. Mit dem Motorrad fuhr Heindl mit ihnen die Silk Route von Istanbul bis Hongkong und Spice Route von Tansania bis ins südafrikanische Kapstadt.

Heindl scheut sich auch nicht, das Wort Freundschaften zu verwenden, wenn er über die jeweiligen Mitreisenden spricht: „Wer gemeinsam in mongolischen Jurten übernachtet und Nordkorea durchfahren hat, der hat gelernt, was Vertrauen bedeutet.“

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