Mit der Bereitschaft zu großen Veränderungen hat der Merck-Konzern sein Geschäftsmodell aufgebaut. Das erweist sich auch in der aktuellen Krise als robust.
Merck-Zentrale in Darmstadt
Das Traditionsunternehmen steuert auf zweistelliges Umsatzwachstum und einen neuen Rekordgewinn von mehr als sieben Milliarden Euro zu.
Bild: Merck
Frankfurt Tradition, Krisenresistenz und wirtschaftlicher Erfolg: Bei keinem anderen deutschen Unternehmen sind diese Qualitäten so stark miteinander verwoben wie beim Pharma-, Biotech- und Spezialchemiekonzern Merck. Das belegt nicht nur die 354-jährige Firmenhistorie. Es genügen die aktuellen Daten und Prognosen: Unter den ältesten deutschen Familienunternehmen ist Merck mit 20 Milliarden Euro Umsatz und 70 Milliarden Euro Börsenwert die mit Abstand größte und zugleich wertvollste Firma.
Und während das Gros der deutschen Industrie in diesen Tagen mit explodierenden Energiekosten und Rezessionsängsten kämpft, steuert das Traditionsunternehmen Merck auf zweistelliges Umsatzwachstum und einen neuen Rekordgewinn von mehr als sieben Milliarden Euro vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen zu.
Den jüngsten Kapitalmarkttag des Unternehmens Anfang Oktober nutzte Firmenchefin Belén Garijo dazu, die ambitionierten Mittelfristziele zu bekräftigen. Auch im aktuell schwierigen Umfeld soll der Konzernumsatz bis Mitte des Jahrzehnts auf mindestens 25 Milliarden Euro zulegen. „Ich bin überzeugt, dass wir unser effizientes Wachstum weiter vorantreiben werden, und zwar organisch wie anorganisch“, versicherte Garijo.
Hinter dem Erfolg des Darmstädter Konzerns steht eine ungewöhnliche Kombination aus Konstanz und Wandlungsfähigkeit. „Die wesentlichen Grundsätze, auf denen unser Unternehmen beruht, haben jeden Wandel überdauert“, sagt Frank Stangenberg-Haverkamp, der Vorsitzende des Merck-Familienrats und Chef der E. Merck KG, über die die Gründerfamilie rund 70 Prozent des Kapitals kontrolliert.
„Merck entwickelt forschungsintensive Spezialprodukte, legt besonderen Wert auf Qualität und ist ein wertebasiertes Unternehmen. Mut, Leistung, Verantwortung, Respekt, Integrität und Transparenz – diese Werte bestimmen unser tägliches Handeln“, betont er. Doch um diese Werte herum hat sich das Unternehmen zuweilen drastisch verändert.
Firmengründer Jacob Friedrich Merck konnte den späteren Aufstieg kaum erahnen, als er 1668 eine Apotheke in Darmstadt erwarb. Mehr als eineinhalb Jahrhunderte betrieb die Familie ausschließlich das Apothekerhandwerk, bevor Emanuel Merck in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts begann, das Geschäft nach und nach auf eine industrielle Basis zu stellen.
Als wissenschaftlich gebildeter Apotheker erwarb er sich Ansehen mit Publikationen zur Synthese von Morphium und mit der Herstellung von pflanzlichen Alkaloiden als Ausgangsstoffe für Arzneien. Darauf aufbauend etablierte er mit der Produktion hochreiner Arzneisubstanzen für andere Apotheker ein neues Geschäftsmodell.
Die Apotheke wandelte sich damit zu einem forschungsbasierten Industrieunternehmen, das sein Geschäft zusehends internationalisiert. Mitte des 19. Jahrhunderts gilt Merck zeitweise als größter deutscher Pharmahersteller.
Erste Krisen musste Merck zu Zeiten des Kaiserreichs bewältigen, als Farbenhersteller wie Hoechst und Bayer zu starken Konkurrenten heranwuchsen. Im Ersten Weltkrieg büßte der Konzern große Teile seines Auslandsgeschäft ein. Der Umsatz sank bis 1915 fast um die Hälfte. Gegen Ende des Krieges verlor der Konzern zudem die florierende US-Tochter Merck & Co, die von der US-Regierung zunächst verstaatlicht und anschließend an US-Investoren veräußert wurde.
Nur mit einem größeren Kredit der Deutschen Bank gelang es Merck damals, die Schwächephase zu bewältigen. Stangenberg-Haverkamp greift auf einen Leitsatz von Winston Churchill zurück, als er zum 350. Firmenjubiläum die Krisen-Philosophie des Unternehmens beschreibt: „Erfolg ist nichts Endgültiges, Misserfolg nichts Fatales, was zählt, ist der Mut weiterzumachen.“
Auch als das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg daniederlag, war dieser Mut gefragt. Rund 70 Prozent des Darmstädter Werkes wurden 1944 durch Bombenangriffe zerstört. Ähnlich wie viele andere Unternehmen musste sich auch Merck dem Vorwurf stellen, das NS-Regime in der Rüstungsproduktion allzu willfährig unterstützt zu haben. Die Familie habe sich erstaunlich schnell mit dem Regime arrangiert, schreibt der Historiker Joachim Scholtysek in der Firmenchronik.
Zahlreiche Familienmitglieder traten 1933 in die NSDAP ein, darunter auch der damalige Seniorchef Karl Merck, der später dem glühenden Nazi und Hitler-Verehrer Bernhard Pfotenhauer gegen den Widerstand anderer Familienvertreter eine führende Rolle in der Unternehmensleitung übertrug.
Noch bis Anfang der 60er-Jahre kämpfte das Unternehmen mit Liquiditätsproblemen, die den Ausbau der Produktion bremsten. Doch auch diese Schwierigkeiten konnte der Konzern überwinden. Unter Führung des langjährigen Firmenchefs Hans Joachim Langmann gelang es zwischen 1970 und 2000 den Umsatz auf 6,7 Milliarden Euro fast zu verzwanzigfachen.
Zu den wichtigen Erfolgsfaktoren gehörte, dass man den eigenen Forschern großen Freiraum ließ. Das machte sich insbesondere in der Entwicklung von Flüssigkristallen bezahlt. Für dieses Forschungsfeld hegte die Konzernführung lange Zeit wenig Begeisterung, ließ es aber weiterlaufen. Zwei Jahrzehnte später schaffte Merck sich mit seinen Flüssigkristallen ein Arbeitsgebiet, das lange Zeit mit mehr als 50 Prozent Weltmarktanteil und ähnlich hohen operativen Margen glänzte.
Als zweiter Erfolgsfaktor erwies sich die Beweglichkeit des Traditionskonzerns und die Bereitschaft der Familie zu radikalen Veränderungen. Bereits Anfang der 90er-Jahre vollzieht Merck mit dem Kauf der französischen Pharmafirma Lipha und ihrem erfolgreichen Diabetesmedikament Metformin einen wichtigen Schritt, um das schwächelnde Pharmageschäft abzusichern.
Zur Finanzierung dieses Zukaufs und weiterer Expansionsschritte entschloss sich die Familie 1995 zum Börsengang. Die Ausgabe von 40 Millionen Aktien der neu formierten Merck KGaA brachte umgerechnet gut eine Milliarde Euro in die Kassen.
Gut ein Jahrzehnt später versucht Merck, die Berliner Schering AG zu übernehmen. Am Ende muss sich Merck bei diesem Vorhaben dem Konkurrenten Bayer geschlagen geben.
Produktion bei Merck in Darmstadt
Zu den wichtigen Erfolgsfaktoren des Familienunternehmens gehört, dass man den eigenen Forschern immer großen Freiraum lässt.
Bild: picture alliance/dpa
Auch nach dieser Niederlage stellt das Familienunternehmen seine Flexibilität unter Beweis: Kurz darauf besiegelt es die Übernahme des Schweizer Pharma- und Biotechunternehmens Serono – und damit die Expansion des Pharmageschäfts in eine andere Richtung. Strebte man mit der Schering-Übernahme noch ins Geschäft mit Verhütungsmitteln, wurde Merck mit Serono zu einem führenden Anbieter von Fruchtbarkeitsmedikamenten und zudem auch zum starken Akteur im Bereich Multiple Sklerose.
Alle drei bis vier Jahre folgten weitere milliardenschwere Akquisitionen: Die Übernahme der US-Firma Millipore und später der Erwerb von Sigma-Aldrich für zusammen mehr als 18 Milliarden Euro machte Merck zu einem führenden Anbieter von Laborchemikalien und Materialien für die Biotechforschung und -produktion. Die Sparte Life Science, in der diese Sparten gebündelt sind, ist heute wichtigster Wachstumsträger des Konzerns und profitierte als Vorlieferant vieler Impfstoffhersteller massiv von der Coronapandemie.
Alles in allem bewegte der Konzern in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich über 40 Milliarden Euro in M&A-Transaktionen und tauschte in diesem Zuge mehr als zwei Drittel des Geschäftsportfolios aus. Verkauft wurde unter anderem das Generikageschäft und das traditionsreiche Geschäft mit rezeptfreien Arzneien und Vitaminprodukten.
Anders als etwa bei Bayer erwiesen sich die großen Akquisitionen bei Merck fast durchweg als erfolgreich. Der Darmstädter Konzern hat damit sein Geschäft in innovationsgetriebene und zugleich ertrags- und wachstumsstärkere Segmente verlagert. „Merck kann sich damit auf ein besonders resilientes Geschäftsmodell stützen und wird sich auch in Zukunft auf nachhaltiges Wachstum fokussieren“, verspricht Firmenchefin Belén Garijo. „Ein verlässlicher Cashflow wird es uns ermöglichen, weitere mutige Schritte zu machen.“
Doch die Firmenchefin räumt auch ein, dass man sich auf seinen Qualitäten niemals lange ausruhen kann. „Es genügt nicht, auf 354 Jahre Historie zurückzublicken. Resilienz muss laufend neu gesichert werden.“
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