Russland behauptet, die Gaslieferungen scheiterten an der deutschen Turbine. Hersteller Siemens Energy und der Bundeskanzler zeigen der Welt im Ruhrgebiet das Gegenteil.
Olaf Scholz vor Gas-Turbine
Der Bundeskanzler besichtigt die Gasturbine bei Siemens Energy im Ruhrgebiet.
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Mülheim an der Ruhr Seit Wochen rätselt Deutschland über Status und Verbleib der Gasturbine SGT-A65. Denn an ihr, so sagt Russland, hänge die Wiederherstellung der Gasversorgung über die Pipeline Nord Stream 1. Am Mittwoch hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Anlage in Mülheim an der Ruhr besichtigt. Dort steht sie, nach der Wartung in Kanada, nun schon seit fast zwei Wochen in einer Lagerhalle des deutschen Technikspezialisten Siemens Energy.
Ein „beeindruckendes Stück Technik“, nennt Scholz die Turbine. Ein Lächeln kann er sich dabei nicht verkneifen. Hier sei aber nichts „Mystisches“ zu betrachten: „Die Turbine ist da und kann geliefert werden. Es muss nur jemand sagen: Ich möchte sie haben – dann ist sie ganz schnell da“, betont der SPD-Politiker. Und genau das ist auch der Grund für den Spontanbesuch des Kanzlers im Ruhrgebiet. Es ist eine Demonstration und ein klares Signal Richtung Russland.
Mitte Juni hatte der russische Gaskonzern Gazprom die Lieferungen über Nord Stream 1 auf 40 Prozent gedrosselt. Mittlerweile kommen sogar nur noch 20 Prozent durch die Verbindung zwischen Russland und Deutschland.
„Technische Mängel“ seien schuld, auf die habe man selbst keinen Einfluss, redet sich Gazprom seit Wochen raus. Problem seien vielmehr die Deutschen und ihr Unternehmen Siemens Energy. Diese Sichtweise vertritt auch Russlands Präsident Wladimir Putin. Scholz hatte das im Vorfeld seines Besuchs als „Putins Bluff“ bezeichnet, der nun als solcher enttarnt sei.
Auch Siemens-Energy-CEO Christian Bruch widerspricht. Es gebe keine technischen Gründe, warum über die Ostseepipeline aktuell nur noch 20 Prozent Erdgas aus Russland ankommen. „In der Verdichterstation im russischen Portowaja stehen sechs solcher Turbinen, plus zwei kleinere. Es braucht fünf für die volle Leistung. Aktuell läuft davon nur eine. Das können wir aus technischer Sicht nicht nachvollziehen“, kritisierte Bruch scharf in Richtung Russland. Dem Unternehmen lägen außerdem keine Meldungen über technische Mängel an anderen Turbinen vor.
In die Debatte mischte sich auch Altkanzler Gerhard Schröder ein, der bis vor Kurzem Aufsichtsrat beim russischen Energiekonzern Rosneft war. Im Interview mit Medien der RTL-Gruppe gab auch der Putin-Vertraute Siemens Energy die Schuld an den Verzögerungen. Er wisse nicht, warum die Turbine in Mülheim sei und nicht in Russland. Zudem forderte er eine Inbetriebnahme der umstrittenen und im Rahmen der Sanktionen gegen Russland zuletzt vom Bundeskanzler gestoppten Pipeline Nord Stream 2.
Turbine SGT-A65
Eine der zentralen Karten im Machtpoker um den Gasfluss durch Nord Stream 1 ist eine Turbine von Siemens Energy. Es soll sich um das Modell SGT-A65, eine sogenannte aeroderivative Turbine, handeln.
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Auf die Äußerungen angesprochen vermied Scholz zwar direkte Kritik an seinem Parteikollegen. Nur eines machte er sehr deutlich: „Wir haben den Genehmigungsprozess zu Nord Stream 2 aus guten Gründen beendet. Es gibt genügend Kapazitäten bei Nord Stream 1 und keinen Mangel an Möglichkeiten für Russland, seine Verträge darüber oder über die Ukraine-Pipeline zu erfüllen.“
Das Turbinen-Epos, unter das Scholz und Siemens Energy nun einen Schlussstrich ziehen wollen, begann mit der routinemäßigen Wartung des Geräts in Kanada. Von dort konnte sie aufgrund der kanadischen Sanktionen infolge des Angriffskriegs auf die Ukraine nicht direkt zurück nach Russland gebracht werden. Weswegen sie auf dem Luftweg zum Flughafen Köln/Bonn und anschließend nach Mülheim verfrachtet wurde. Ihr Einsatz in der Pipeline war aber ohnehin erst ab September wieder eingeplant.
>> Lesen Sie auch: Konter von Siemens auf Turbinen-Saga von Gazprom war überfällig
„Was fehlt, sind erforderliche Zolldokumente für den Import nach Russland“, teilte Siemens Energy schon zuvor mit. Diese Informationen könnten wiederum nur von Gazprom bereitgestellt werden. Schon fast mantraartig wiederholte CEO Bruch auch am Mittwoch noch einmal: „Der Transport der Turbine ist vorbereitet und kann sofort starten.“
Wartungen aller Turbinen in der insgesamt 1224 Kilometer langen Pipeline Nord Stream 1 finden regelmäßig in Abständen von drei bis fünf Jahren statt. Sie gehören zur Routine und sind im Vorhinein genau geplant. So auch die Wartung der nun im Ruhrgebiet lagernden Turbine. In Portowaja wartet derweil eine funktionstüchtige Ersatzturbine auf ihren Einsatz. „Ein solches Ersatzteil nutzt Gazprom aber in der Regel erst dann, wenn das Original auf dem Rückweg ist,“, sagte Bruch. Man sei im ständigen Dialog mit Vertretern des russischen Staatskonzerns, „aber es gibt keine Einigkeit“.
Das ist diplomatisch ausgedrückt, hat Gazprom in den vergangenen Wochen doch alles daran gesetzt, den deutschen Energietechnikspezialisten in der Öffentlichkeit zu denunzieren. Erst in der vergangenen Woche warf Gazprom-Vizechef Vitaly Markelov dem Unternehmen im russischen Fernsehen gar „Vertragsbruch“ vor. Man habe eine reparierte Turbine im Mai zurückerwartet, die bis heute nicht angekommen sei, so der Manager. Außerdem seien auch Motoren anderer Turbinen defekt, und Siemens Energy tue „nichts, um diese Probleme zu beheben“.
Wochenlang hatte sich Siemens Energy mit Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückgehalten, der Standort der Turbine galt als geheim, und gesehen hatte sie bis zum Mittwoch noch nicht einmal der Bundeskanzler. Jetzt ist es mit der Zurückhaltung vorbei. „Das Objekt der Begierde ist seit über einer Woche hier“, stellt Bruch klar. Sowohl der Konzernchef als auch der Bundeskanzler wirken sichtlich angespannt.
Kein Wunder, steht die Turbine doch symbolisch für die Macht, die Russland über Deutschland hat. Putin demonstriert das gerade eindrucksvoll. Seit weniger Erdgas durch Nord Stream kommt, sind die Gaspreise an der niederländischen TTF-Börse von 87 Euro die Megawattstunde (MWh) auf einen Rekordwert von mittlerweile 205 Euro je MWh gesprungen.
Und Deutschland, das bis im vergangenen Jahr noch über die Hälfte seiner Erdgasnachfrage mit Rohstoff aus Russland gedeckt hat, steht vor der Frage, wie es ohne gehen kann.
Darauf habe man sich aber früh genug vorbereitet, sagte Kanzler Scholz in Mülheim und verwies auf die geplanten Flüssigerdgas-Terminals im Osten des Landes, erhöhte Importe über Belgien, die Niederlande und Frankreich sowie die Bemühungen der Bundesregierung, den Gasverbrauch zu senken – durch den Einsatz alter Kohlekraftwerke und Energiesparmaßnahmen in Wirtschaft und Bevölkerung.
Tatsächlich zeigen neueste Berechnungen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, dass die Maßnahmen erste Wirkung zeigen: Im ersten Halbjahr ist der Energieverbrauch in Deutschland um 3,5 Prozent zurückgegangen, meldete der Verein. Zwar stieg der Einsatz von Kohle und Erdöl in den ersten sechs Monaten, dafür ist der Erdgasverbrauch um 15 Prozent zurückgegangen. Hauptursache sind dafür laut Experten zum einen das milde Wetter, zum anderen aber auch die hohen Preise.
Das reicht allerdings nicht, um Deutschland unbeschadet durch die nächsten beiden Winter zu bringen. Noch ist man auf russisches Erdgas angewiesen. Auf eine Kehrtwende in Russland deutet momentan allerdings nichts hin. Nach Kremlangaben hofft das Land offiziell auf eine rasche Rückkehr der reparierten Gasturbine und bleibt bei seiner Version der Geschichte.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach in diesem Zusammenhang von einer „Farce“.
Erstpublikation: 03.08.2022, 11:10 Uhr
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