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27.08.2021

17:05

Pharmaindustrie

Neuer Forschungs-Flop bei Merck – Die Zweifel an Pharma-Pipeline des Konzerns wachsen

Von: Siegfried Hofmann

Während das Geschäft mit Lifescience-Produkten und Halbleitermaterialien boomt, fällt der Börsenstar Merck in der Medikamentenentwicklung zusehends zurück.

Ähnlich wie bei Bayer wächst bei Merck der Druck, die fragile Pharma-Pipeline mit Zukäufen oder Lizenzdeals zu stärken. Merck

Mitarbeiter im Labor von Merck

Ähnlich wie bei Bayer wächst bei Merck der Druck, die fragile Pharma-Pipeline mit Zukäufen oder Lizenzdeals zu stärken.

Frankfurt An der Börse befindet sich Merck dank des Booms bei Lifescience- und Halbleiter-Materialien aktuell im Höhenflug. Doch ausgerechnet auf dem wichtigen Feld der Pharmaforschung kämpft der Darmstädter Pharma-, Biotech- und Spezialchemie-Konzern mit einer Serie von Misserfolgen. Das wiederum dämpft die längerfristigen Perspektiven für den zweitgrößten Konzernbereich.

Jüngstes Indiz für die Forschungsschwächen von Merck ist ein weiterer Fehlschlag beim potenziellen Krebsmittel Bintrafusp-alfa, einem der bisher vielversprechendsten Entwicklungsprojekte von Merck. In diesem Fall ging es um eine Phase-2-Studie bei Patienten mit lokal fortgeschrittenen oder metastasierten Tumoren der Gallenblase und des Gallengangs, die man mangels Erfolgsaussichten einstellen musste. Basierend auf einer Prüfung der Daten durch ein unabhängiges Datenüberwachungsgremium (IDMC) habe man sich entschieden, die Studie nicht weiterzuführen, heißt es in einer „Stellungnahme“, die Merck am Dienstag auf seiner Website publizierte.

In den ersten Monaten des Jahres war bereits eine weitere Testreihe in der Therapie von Gallenblasen-Tumoren sowie eine große Studie im Bereich Lungenkrebs gescheitert. Hier hatte Merck das Molekül im direkten Vergleich mit dem Bestseller Keytruda vom amerikanischen Pharmakonzern Merck & Co getestet.

Bintrafusp ist nicht das einzige Beispiel für die Erosion der Merck-Pharma-Pipeline: Seit Ende 2019 hat sich die Zahl der Phase-1-Studien von elf auf acht und die Zahl der Phase-2-Projekte von 18 auf acht verringert. Keines der Projekte ist in diesem Zeitraum in die abschließende Testphase 3 vorgerückt.

Vielmehr hat sich Merck in aller Stille von einer ganzen Reihe an Wirkstoffkandidaten verabschiedet, indem man sie entweder an andere Firmen verkaufte oder einstellte. Aus der Liste herausgefallen sind zum Beispiel – neben den drei Bintrafusp-Projekten – Produkte gegen Schuppenflechte, Osteoarthritis und Darmkrebs. Auch beim Einsatzspektrum für den Wirkstoff-Kandidaten Evobrutinib hat Merck die Ambitionen zurückgeschraubt. Er wird inzwischen nur noch gegen Multiple Sklerose entwickelt, nachdem sich Tests im Bereich Rheuma und Lupus Erythematodes offenbar als nicht erfolgversprechend erwiesen.

Fehlschläge haben wenig Einfluss auf aktuelle Geschäftsentwicklung

Die Rückschläge bei Bintrafusp sind insofern besonders schmerzhaft, als das Molekül vor zwei Jahren noch als das wohl hoffnungsträchtigste Pharmaprojekt des Konzerns gehandelt wurde. Anfang 2019 kaufte sich der britische Pharmariese Glaxo-Smithkline (GSK) im Zuge einer strategischen Allianz in das Programm ein und zahlte dafür 300 Millionen Euro vorab an Merck.

Darüber hinaus sagten die Briten erfolgsabhängige Zahlungen von bis zu 3,4 Milliarden Euro zu. „Zusammen mit GSK wollen wir einen Paradigmenwechsel in der Krebstherapie als führende Hersteller einer neuen Klasse von Immuntherapien vorantreiben“, beschrieb die damalige Pharma- und heutige Konzernchefin Belén Garijo die Ambition hinter dem Deal.

Doch mit dem jüngsten Rückschlag sind inzwischen drei von acht größeren Studien mit Bintrafusp gescheitert. Weiter getestet wird der Wirkstoff gegen bestimmte Formen von Lungenkrebs, Gebärmutterkrebs und Brustkrebs. Manche Branchenkenner schließen indessen nicht mehr aus, dass sich das Projekt zum kompletten Flop für Merck und GSK entwickeln könnte. Das wäre auch für GSK ein herber Rückschlag für das geplante Comeback im Onkologiegeschäft.

Der Wirkstoff ist im Prinzip eine Weiterentwicklung des bereits zugelassenen Krebsmittels Bavencio, das Merck in Kooperation mit dem US-Konzern Pfizer entwickelte. Dieses Medikament ist seit vier Jahren zugelassen, hat gegenüber früheren Erwartungen aber ebenfalls enttäuscht.

Grafik

Dabei gehören sowohl Bavencio als auch Bintrafusp zu den sogenannten Checkpoint-Inhibitoren, einer neuen Klasse von Immuntherapien, die in den letzten Jahren in der Krebstherapie für einige Furore sorgten und mit denen Konkurrenten wie Merck & Co, Bristol-Myers Squibb, Roche und Astra-Zeneca inzwischen hohe Milliardenumsätze erzielen. Die Mittel blockieren chemische Signale, mit denen Tumore die Immunabwehr lahmlegen.

Bintrafusp wurde von Merck so konstruiert, dass der Wirkstoff zusätzlich an einem weiteren krebsrelevanten Botenmolekül namens TGF-beta andocken kann. Die Forscher in Darmstadt hofften, damit eine überlegene Immuntherapie zu entwickeln. Doch das erscheint inzwischen immer unrealistischer.

Auf die aktuelle Entwicklung des Merck-Pharmageschäfts hat die Serie an Fehlschlägen noch wenig Einfluss. Im ersten Halbjahr ist die Gesundheitssparte von Merck in etwa branchenkonform um sieben Prozent auf 3,4 Milliarden Euro Umsatz gewachsen. Produkte wie das MS-Medikament Mavenclad, erweiterte Zulassungen für Bavencio im Bereich Nieren- und Blasenkrebs und erste Zulassungen für das Krebsmittel Tepotinib sichern vorerst noch weiteres Umsatzwachstum.

Den erwarteten Umsatzbeitrag von neuen Produkten aus der Pharma-Entwicklungspipeline im Jahr 2022 hat Merck indessen kürzlich auf 1,6 bis 1,8 Milliarden Euro nach unten korrigiert, gegenüber ursprünglich geplanten zwei Milliarden Euro. Und vor allem die weiteren Perspektiven über 2022 hinaus trüben sich durch die Schwächen in der Medikamentenentwicklung zusehends ein.

Die Pharmaforschung könnte damit zur wichtigsten Baustelle für die neue Konzernchefin Belén Garijo werden, die Anfang Mai die Führung in Darmstadt übernommen hat. Denn ähnlich wie bei Bayer wächst letztlich auch bei Merck der Druck, die fragile Pharma-Pipeline mit Zukäufen oder Lizenzdeals zu stärken. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat der Konzern bereits Anfang Januar getan, indem er für bis zu 900 Millionen Euro die Rechte an einem neuen Krebsmittelkandidaten der Schweizer Biotechfirma Debiopharm erwarb.

Insgesamt befindet sich Merck für weitere strategische Pharma-Deals in einer deutlich günstigeren Ausgangsposition als der Konkurrent in Leverkusen. Rückhalt dafür gibt nicht nur die aktuell starke Entwicklung in den Sparten Lifescience und Electronics, die von einer hohen Nachfrage nach Biotech-Materialien und Halbleiter-Vorprodukten profitieren und ihre Ertragsprognosen jüngst anheben konnten, sondern auch die – trotz der Pharmaschwächen – sehr starke Börsenperformance. Nach fast 50 Prozent Kursgewinn seit Jahresgewinn wird der Darmstädter Konzern inzwischen immerhin mit 87 Milliarden Euro bewertet und damit fast doppelt so hoch wie Bayer.

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