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25.01.2023

04:00

Prognosen

Mehr Gewinnwarnungen – die Unsicherheit bei Unternehmen wächst

Von: Ulf Sommer

Nur noch jeder vierte deutsche börsennotierte Konzern ließ seine Jahresprognose unverändert. Wie Anleger darauf reagieren.

Der Sportartikelhersteller senkte im vergangenen Jahr gleich drei Mal die Prognose. dpa

Adidas

Der Sportartikelhersteller senkte im vergangenen Jahr gleich drei Mal die Prognose.

Düsseldorf Nach rekordhohen 129 Milliarden Euro Nettogewinn im Geschäftsjahr 2021 dürften die 40 Dax-Konzerne 2022 in etwa ebenso viel verdient haben. Trotz steigender Preise, Krieg in Osteuropa und gestörter Lieferketten. Genauen Aufschluss geben in den kommenden Wochen die Jahresbilanzen.

Allerdings ist schon vor deren Veröffentlichung klar, dass die drohende Rezession, die hohen Gaspreise und eine nachlassende Kaufkraft mehr Unternehmen vorsichtiger in die Zukunft blicken lässt: Nach einer Umfrage des Warenkreditversicherers Atradius rechnen 59 Prozent der Unternehmen in der deutschen Chemiebranche mit einem konjunkturellen Abschwung in diesem Jahr. Im Baubereich sind es 57 und im Metallsektor 55 Prozent.

„Immer mehr Unternehmen haben zu kämpfen und schauen pessimistisch in die Zukunft“, sagt Milan Knarse, Partner der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY, „und es ist schwer zu prognostizieren, wie sich die geopolitische und wirtschaftliche Lage in den kommenden Monaten entwickeln wird“.

Doppelt so viele Prognose-Anhebungen wie Senkungen 2022

Diese zunehmende Skepsis hat sich bereits im Verlauf des vergangenen Jahres abgezeichnet, wie Erhebungen von EY zeigen, die dem Handelsblatt vorliegen: Im Jahresverlauf gab es einen kontinuierlichen Anstieg an Warnungen vor niedrigeren Erträgen – von sieben im ersten Quartal auf 24 im vierten Quartal.

Die Zahl der positiven Korrekturen nach oben war dagegen rückläufig: von 47 im ersten Quartal auf 40 im letzten Quartal des Jahres. „Die gesamte Welt befindet sich in einer Schwächephase“, sagte der Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, mit Blick auf die vielen exportstarken deutschen Unternehmen.

Grafik

Hinzu kommt, dass Firmenkredite angesichts steigender Zinsen für Bankkredite und Unternehmensanleihen teurer werden, die Konzerne weniger Liquidität haben und deshalb Investitionen verschieben, sodass am Ende Ertragssteigerungen ausgebremst werden. Letztlich sollten sich die Unternehmen auf alle Szenarien vorbereiten – von anhaltender Krise und Rezession bis zu einem Aufschwung schon in der zweiten Jahreshälfte.

Insgesamt hat sich die Zahl der Gewinn- oder Umsatzwarnungen unter den 160 in Dax, MDax und SDax vertretenen Unternehmen im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr von 35 auf 70 verdoppelt. Im Dax senkten unter anderem Covestro, Fresenius Medical Care und Adidas ihre Ertragserwartungen – der Sportartikelhersteller gleich dreimal. Im Dax gab es 18 entsprechende Hiobsbotschaften.

Trotz dieses Anstiegs liegt die Zahl der Warnungen deutlich unter dem bisherigen Rekordwert von 108 aus dem Jahr 2020. Damals führte der Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr dazu, dass Unternehmen angesichts der schwer abzusehenden Folgen reihenweise ihre Prognosen einkassierten.

Unternehmen erhöhten 157 Mal die Prognose

Bemerkenswert ist, dass im Krisenjahr 2022, das mit dem starken Anstieg der Gaspreise im Herbst infolge des russischen Angriffskriegs seinen Höhepunkt fand, ungewöhnlich viele Unternehmen ihre Ertragsprognosen angehoben haben – und das trotz Inflation, steigender Zinsen und Schwierigkeiten vor allem im großen Absatzland China.

Die Zahl der Aufwärtskorrekturen von Prognosen lag mit 157 auf dem zweithöchsten Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2011. Unter anderem hoben Linde, Mercedes-Benz, Henkel, Infineon sowie Deutsche Telekom und Deutsche Post ihre Jahresprognose aufgrund der guten Entwicklung an.

In der zweiten Reihe erhöhten beispielsweise der Zulieferer Vitesco aufgrund einer anziehenden Autoproduktion und der Anlagenspezialist Krones infolge einer guten Auftragslage ihre Jahresziele.

Gleich mehrere Gründe führten zu den besseren Bedingungen und höheren Prognosen. „Viele Unternehmen haben in den vergangenen Monaten sehr gut verdient und sich sogar besser entwickelt als erwartet“, sagt EY-Partner Knarse. „Ein hoher Auftragsbestand, anhaltend hohe Preise und eine bis zuletzt bemerkenswert starke Nachfrage hatten etliche positive Prognosekorrekturen zur Folge.“

Viele Unternehmen haben in den vergangenen Monaten sehr gut verdient und sich sogar besser entwickelt als erwartet. Milan Knarse, Partner der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY

Vorübergehende Lieferkettenschwierigkeiten, Knappheiten und die nicht befriedigte Nachfrage aus Zeiten der Coronapandemie wirkten sich positiv aus. So produzierten die Autobauer zwar weniger Fahrzeuge, vor allem weil in China die Nachfrage einbrach.

Doch die Hersteller konnten aufgrund des Mangels an Halbleitern die Preise anheben und konzentrierten sich auf die Herstellung margenträchtiger Großlimousinen anstatt günstigerer Kleinwagen. Das bescherte steigende Gewinne und angesichts gesunkener Absätze überproportional stark steigende Renditen.

Das war ein Grund dafür, dass Mercedes seine Prognose im Jahresverlauf angehoben hatte. Bei den Stuttgartern wirkt sich die Fokussierung auf die Marke und hochpreisige Autos positiv aus.

Autohersteller konnten 2022 aufgrund des Mangels an Halbleitern die Preise anheben und konzentrierten sich auf die Herstellung margenträchtiger Großlimousinen anstatt günstigerer Kleinwagen.

Mercedes-Produktion

Autohersteller konnten 2022 aufgrund des Mangels an Halbleitern die Preise anheben und konzentrierten sich auf die Herstellung margenträchtiger Großlimousinen anstatt günstigerer Kleinwagen.

Darüber hinaus waren die Unternehmen spätestens nach Ausbruch des Ukrainekriegs im Februar sehr vorsichtig. Als sich dann aber die schlimmsten Befürchtungen nicht bestätigten, sondern die Nachfrage trotz steigender Preise und der höchsten Inflation seit dem Ölpreisschock in den 1970er-Jahren hoch blieb, reagierten die Konzerne mit erhöhten Prognosen.

Die zunehmende Unsicherheit spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass nur 43 der 160 untersuchten Unternehmen ihre Prognose im Jahresverlauf gar nicht angetastet haben. Immer weniger Konzernen gelingt es also, ihre eigenen Erwartungen exakt zu erfüllen.

Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich. Erstens gab es 2020 mit der Coronapandemie und 2022 mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zwei große, nicht absehbare Ereignisse. Sie machten Planungen zunichte und bescherten neue Ausgangsbedingungen. Diese wurden für viele Unternehmen schlechter, aber nicht für alle. Rüstungsfirmen wie Rheinmetall und Hensoldt profitieren vom Krieg mit höheren Aufträgen.

Ansprüche der Aktionäre steigen

Die Pandemie wiederum verlieh vielen Onlinefirmen, wie etwa dem Kochboxen-Spezialisten Hellofresh, einen Schub, weil physische Vor-Ort-Einkäufe schwieriger wurden. Auch der Onlinehändler Zalando profitierte mit steigenden Bestellungen im Netz von geschlossenen Läden – und später der Neigung vieler Kunden, lieber von zu Hause als im Gedränge einzukaufen.

Zweitens werden die Prognosen Jahr für Jahr immer genauer und damit aber auch anfälliger für anschließende Korrekturen. Dabei geht es um Ansprüche der Aktionäre, der Unternehmensanteilseigner. Diese verlangen nach amerikanischem Vorbild so exakte Prognosen wie möglich.

Es geht dabei um größtmögliche Transparenz und um exakte Umsatz-, Gewinn- und Rentabilitätsspannen, die mit Zahlen unterlegt sind. Infolgedessen steigt das Risiko, dass diese Prognosen im Jahresverlauf nicht aufgehen und deshalb gesenkt oder aber erhöht werden. Die Zeiten, in denen Unternehmen ihren Aktionären im Geschäftsbericht mitteilen: „Wir hoffen, das Vorjahresergebnis steigern zu können“, sind vorbei.

Die Pandemie verlieh vielen Onlinefirmen einen Schub. Hello Fresh

Hellofresh

Die Pandemie verlieh vielen Onlinefirmen einen Schub.

Neben der zunehmenden Volatilität und dem Korrekturbedarf der Prognosen bleibt ein Trend: Aktionäre reagieren deutlich stärker auf negative Unternehmensnachrichten als auf positive Prognosekorrekturen. Am Tag der Gewinn- oder Umsatzwarnung sank der Aktienkurs des jeweiligen Unternehmens um durchschnittlich 6,1 Prozent im Jahr 2022. Bei einer Aufwärtskorrektur hingegen stieg der Aktienkurs am Tag der Meldung nur um zwei Prozent.

Über den Grund, warum negative Überraschungen den Markt stärker beeindrucken, lässt sich nur spekulieren. Fakt ist aber, dass Analysten, die ihre Gewinnschätzungen Woche für Woche aktualisieren, in der Mehrheit stets deutlich positiver gestimmt sind, als es der Realität entspricht.

Insofern dürften positive Korrekturen der Unternehmen häufig bereits in den Analystenschätzungen enthalten sein – herabgesetzte Ertragserwartungen aber nur selten. Umso überraschter reagieren deshalb Anlegerinnen und Anleger, die sich in der Regel an den Analystenschätzungen orientieren, mit Verkäufen, wenn die Konzerne mit einer Hiobsbotschaft überraschen.

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